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Unbekannter Nachbar der Masuren
Mit negativem Test kann man wieder nach Polen reisen. Wer seinen Sommerurlaub sicherheitshalber mit Abstand plant, findet beim östlichen Nachbarn viele lohnenswerte Ziele - wie etwa im menschenleeren Ermland (Warmia)
Dünne Nebelschwaden wachsen aus dem nassen Gras. Dessen süßer Duft mischt sich mit dem von Blüten, Kiefernnadeln und feuchter Erde. Wie frischer Atem strömt die Luft aus Wald und Garten durch das weit geöffnete Küchenfenster. Ein Tag im Mai neigt sich dem Ende zu.
»In Ermland kann man riechen, wenn es Abend wird«, meint Marta Wysokińska und holt die heißen Brote aus dem Ofen. Damit sorgt die junge Frau in Jeans und T-Shirt für noch mehr Wohlgeruch im »Siedlisko Pasieka« - deutsch: Bienen- oder Immenhof. Das kleine bäuerliche Anwesen ist Familienwohnsitz, Ferienranch und Imkerei. Es gehört zum Dörfchen Studzianka und liegt in einem Wald am Teich, irgendwo zwischen Olsztyn und Lidzbark Warmiński, mitten in der stillen Wildnis Ermlands.
Die ländliche, nur dünn besiedelte Region im Nordosten Polens bildete zusammen mit dem Oberland sowie Masuren, dem litauischen Memelland und dem Königsberger Gebiet (Kaliningrader Oblast) bis 1945 die deutsche Provinz Ostpreußen. Einst lebten hier die baltischen Pruzzen. Bevor der Landstrich 1466 als Fürstbistum an Polnisch-Preußen und 1772 an das preußische Königreich fiel, war es Teil des Deutschordensstaates (13.-15. Jahrhundert).
Entscheidend für das Ende dieser Herrschaft war der Sieg der Polen und Litauer in der Schlacht von Tannenberg (Stębark) bei Grünfelde (Grunwald) am 15. Juli 1410. Diesem nationalen Mythos wurde dort eine Gedenkstätte mit Museum und Amphitheater gewidmet. An den Jahrestagen des Gemetzels finden seit 1998 inszenierte Massenkampfkostümspektakel statt - in diesem Jahr am 17. Juli.
Die »historischen Lager« werden während dieser so genannten Grunwald-Tage von tausenden Hobbyrittern bevölkert. Bis zu 100 000 Zuschauer will man in manchen Jahren vor Corona gezählt haben. Aus Protest gegen nationalistische Tendenzen tauchten in den letzten Jahren immer wieder »Anti-Helden« in Spaßverkleidungen auf - etwa als Pippi Langstrumpf oder Dinosaurier. Der Grunwald-Trail (Szlak Grunwaldski), ein 180 Kilometer langer Radweg, verbindet alle Schauplätze der Schlacht.
An die ereignisreiche Vergangenheit des unscheinbaren Landstrichs erinnert ebenso die Route der Masurischen Befestigungsanlagen. Dazu gehören neben wehrhaften Schlössern und Kirchen auch Bunkerkomplexe wie die Wolfsschanze bei Gierloż/Kętrzyn, vor allem aber die zahlreichen, meist sorgfältig restaurierten Ordensburgen. Zu den bekanntesten der protzigen gotischen Backsteinbauten gehören die in den ermländischen Städten Olsztyn, Lidzbark Warmiński und Frombork. Neben ihrer architektonischen Schönheit fesseln sie durch ihre Geschichte: Alle drei waren Wohn- und Wirkungsorte von Nikolaus Kopernikus (1473-1543).
Um seinem Onkel, Fürstbischof Lucas Watzenrode, zu dienen, kam er als junger Gelehrter nach Ermland und verbrachte hier den größten Teil seines Lebens. Neben der Verwaltungsarbeit widmete sich Kopernikus der Wissenschaft. Ausgerechnet in Frombork, das, wie er an den Papst schrieb, »im hintersten Winkel der Welt« liege, gelangte der Kleriker, Arzt und Astronom zu der Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne dreht.
Honig in allen Bernsteinfarben
Im Haus des Immenhofs freut man sich, dass endlich wieder Gäste da sind. Es klappern Teller und Besteck, denn bald soll es Essen geben. Während Marta die Suppe vorbereitet, stellt ihr Mann Tomek Schälchen auf den Tisch und füllt sie mit Honig in allen Bernsteinfarben - von tiefem Dunkelbraun bis Beinahe-Weiß. Bevor das Abendessen fertig ist, wird verkostet und genascht. Jede Sorte schmeckt tatsächlich anders - und alle gleichermaßen gut. Die Erzeuger freuen sich.
Marta und Tomasz Wysokiński, beide 39, beide Ökologen, kamen aus reinem Zufall zu den Bienen. Ein befreundeter Imker sei schuld gewesen. »Als er in die Stadt umzog, vererbte er uns seine Bienenstöcke samt Bewohnern«, erzählt der Mann. Mittlerweile tummeln sich 70 Völker im privaten Wald der Wysokińskis. Mit einem jährlichen Honigertrag von zwei Tonnen revanchieren sich die fleißigen Insekten für die liebevolle Pflege.
»Der Boden hier ist nicht sehr fruchtbar. Darum gibt es keine großen Äcker und kaum Probleme mit Agrarchemie«, erklärt Tomek. Massenhaftes Bienensterben sei in diesen Breiten noch kein Thema.
Schon beim Studium träumte das Paar davon, der Großstadt zu entfliehen - und zwar nach Ermland. »Hier sind Natur und Landleben noch sehr ursprünglich und die Preise günstig«, kommentiert Marta. Diverse Jobs im Ausland und eisernes Sparen halfen ihnen, sich ihren Traum zu erfüllen. Den Platz dazu hatten sie im Internet entdeckt.
14 Hektar Eichen, Kiefern sowie Bäume 13 weiterer Arten. Mittendrin ein ermländisches Bauernhaus, gebaut vor mehr als 100 Jahren. Bis Anfang der 1990er wurde das Gehöft bewohnt. Danach lag es lange brach. »Fast alles war kaputt«, berichtet Tomek. Die jungen Eheleute kauften Wald und Hof und schufen daraus ihr Domizil - nicht nur für die eigene Familie. Nach langem Leerstand wegen Covid-19 sind die drei geräumigen, gemütlichen Gästezimmer für diesen Sommer wieder gut gebucht.
Neue Landlust: bio, kreativ, entspannt
»Es spricht sich herum, dass es in Ermland und Masuren außer den bekannten noch viele andere schöne Plätze gibt«, sagt Artur, der mit seinem Partner Tomas die Landpension Fajne Miejsce (Schöner Ort) betreibt. Das hübsche Häuschen mit weitläufigem Grundstück liegt am Rande des Dorfes Tłokowo, dessen prächtige Kirche ein wahres Kleinod gotischer Backsteinbaukunst ist.
Der Ringsee (Jezioro Pierścień), den man von dem leicht erhöht liegenden Haus sehen kann, ist nur 150 Meter entfernt. Zwischen den hügeligen Wiesen rund herum findet jeder Gast sein ganz privates Ruheplätzchen. Für Mußestunden werden Stoffdruck-Workshops und vegane Kochkurse angeboten.
Ähnlich wie die Waldimkerfamilie entschied sich das Designer-Paar Artur und Tomas für ein Leben auf dem Land und dafür, es mit anderen zu teilen. Und ebenso wie Siedlisko Pasieka gehört ihr liebevoll gepflegtes Anwesen zum regionalen Ökotourismus-Netzwerk »Revita Warmia«.
Dessen Gründer sind die Künstler-Eheleute Marcelina Mikułowska und Rafał Mikułowski, die im Zentrum von Jeziorany ein Galerie-Café betreiben. Unter anderem kann man sich hier über die 26 Biobauernhöfe, Landpensionen und -gasthäuser des Vereins erkundigen.
Während der Saison findet jeden Samstag, auf dem Marktplatz vor der Galerie ein Ökomarkt (Eko Torg) statt. Zwischen neun und zwölf Uhr bieten dort Bioproduzenten, Handwerker und Kreative ihre Produkte feil. Immer mit dabei sind neben Martas und Tomeks Honig vegane Köstlichkeiten des »mobilen Restaurants« von Ewa Pe und Käsespezialitäten von der Schäferei Lefevre.
Käsemachen gegen Stress
Obwohl es dort nur eine Ferienwohnung gibt, mangelt es nicht an Besuchern. »Viele unserer Kunden kommen direkt auf den Hof, um Käse zu kaufen«, sagt Stéphane Lefevre. Der Franzose hatte jahrelang Brautkleider in Warschau verkauft, wobei er seine Frau Magdalena kennenlernte. Sie heirateten und gingen nach Paris. Dann zog es sie aufs Land.
»Während des Studiums hatte ich oft in Ermland zu tun. Ich verliebte mich in seine stille Schönheit und wusste: Wenn ich einmal das Stadtleben aufgebe - dann nur dafür«, erzählt die promovierte Landschaftsarchitektin. 2014 zogen sie, ihr Mann und ihre Tochter sowie 17 Lacaune-Milchschafe aus Frankreich ins ermländische Kiersztanowo bei Mrągowo, um eine neue Existenz aufzubauen. Mittlerweile blöken in den Ställen mehr als 70 Tiere. Täglich werden sie per Hand gemolken. Aus 1500 Liter Milch stellen sie monatlich 300 Kilogramm Käse her - meist Roquefort, und Frischkäse. Insgesamt sind es zwölf Sorten, darunter Produkte mit Ingwer, Mohn, Feige sowie Eichel-Asche.
Parallel zur Eröffnung der Marktsaison in Jeziorany findet in Lidzbark Warmiński das alljährliche Käsefestival statt. Anfangs eine reine regionale Angelegenheit, treffen sich inzwischen dort Liebhaber und Produzenten aus ganz Polen. Da wird probiert und gefachsimpelt, gekauft, gekocht und gefeiert. Höhepunkt ist ein Wettbewerb um die besten Produkte. Zu den Preisträgern gehörten bereits die Lefevres: mit ihrem Aschekäse »Schwarzes Schaf«.
Die Langsamkeit und Ruhe, die man fast überall in Ermland spüren kann, ist in kleinen Städten wie Reszel, Lidzbark Warmiński oder Biskupiec Programm. Denn mit dem Anschluss an die internationale Cittàslow-Bewegung erhebt man dort die hausgemachte Lebensqualität zum leitenden Prinzip. Aussteiger und Großstadtflüchtlinge werden zu Biobauern, Natur- wie Landliebhaber entdecken die Region als individuelles Reiseziel. Dieser aktuelle Trend verhindert nicht, dass Ermland weiter in den Träumen alter Tage schlummert - und das hoffentlich noch lange tut.
Die Recherche zu diesem Beitrag wurde vom Polnischen Fremdenverkehrsamt unterstützt.
Tipps
Anreise: Mit dem Auto braucht man von Berlin nach Ermland 6 Stunden 40 Minuten. Sowohl ein guter Ausgangspunkt für Touren in die ländliche Umgebung als auch Reiseziel selbst ist Olszytn, die Hauptstadt der Woiwodschaft Ermland-Masuren.
Sehenswürdigkeiten: Gotische Ordensburg (mit barockem Schloss) in Allenstein (Olsztyn) mit regionalgeschichtl. und Kopernikus-Museum. www.muzeum.olsztyn.pl Freilichtmuseum in Olsztynek mit 80 bäuerlichen Bauten auf 35 ha Fläche. www.muzeumolsztynek.com.pl/de
Übernachten: Der »Immenhof« Siedlisko Pasieka auf einem abgelegenen Waldgrundstück bietet außer köstlichen Honigprodukten gemütliche Gästezimmer und hervorragendes Essen sowie Erholung mitten in der Natur. Übernachtung mit Frühstück und Abendessen ca. 40 Euro p. P. www.siedlisko-pasieka.pl In Tłokowo bei Jeziorany betreibt das Designerpaar Artur und Tomas die Landpension Fajne Miejsce (Schöner Ort) - mit individuell eingerichteten, originell und liebevoll gestalteten Zimmern (Studio mit Terrasse für 2 Personen und 2 Nächte 111 Euro) mit Gartenzugang und Seeblick, 150 Meter vom Ringsee entfernt, sowie einer Holzofensauna. Fahrräder und Boote sowie Langlaufski stehen kostenlos zur Verfügung. www.fajnemiejsce.pl Neben köstlichem Käse und anderen Bioprodukten bekommt man in der Ökofarm Lefevre auch Gästezimmer mit Schäfchen vor der Tür. owczarnialefevre@gmail.com
Radtouren: Der ostpolnische Radweg Green Velo ist mit fast 2000 Kilometern der längste im Land. Er verbindet herrliche Landschaften, Naturschauplätze und kulturell attraktive Orte in Ermland-Masuren, Podlachien und weiteren Regionen Polens. www.greenvelo.pl/de
Auskünfte: www.wmrot.org www.polen.travel/de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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