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Haushalt aus der Datsche
Wahl in Sachsen-Anhalt: Das PDS-tolerierte »Magdeburger Modell« von 1994 bis 2002 prägt die Linke bis heute
Rüdiger Fikentscher hatte genug von all dem Trubel, den Unwägbarkeiten, den bohrenden Fragen der Journalisten. Es war der Abend des 26. Juni 1994, gerade war die zweite Landtagswahl in Sachsen-Anhalt seit der politischen Wende zu Ende gegangen. Als die ersten Prognosen eintrudelten, befand sich der damalige SPD-Landesvorsitzende im Magdeburger Parlamentsgebäude und war unzufrieden. Seine Partei hatte mit 34,0 Prozent zwar ein starkes Ergebnis eingefahren, war aber knapp an der CDU (34,4 Prozent) gescheitert. Dabei hatte Fikentscher zuvor fest mit einem Wahlsieg gerechnet. Nun musste er viele Fragen beantworten, doch zunächst einmal brauchte er etwas Ruhe. Zeit zum Nachdenken.
Also zog er sich mit einigen Mitstreitern in sein großräumiges Büro zurück und beratschlagte. Viele Möglichkeiten gab es angesichts von nur vier in den Landtag eingezogenen Parteien - neben CDU und SPD noch PDS (19,9 Prozent) und Grüne (5,1 Prozent) nicht. Eine Koalition mit den Grünen ergab keine Mehrheit. Mit der PDS wollte man damals, so kurz nach dem Ende der DDR, noch nicht koalieren. Und zwischen CDU und SPD waren die Fronten nach der ersten Legislaturperiode mit gleich drei Ministerpräsidenten - zwei CDU-Regierungschefs mussten wegen verschiedener Affären zurücktreten - verhärtet. Was also tun?
Sachsen-Anhalt wählt am 6. Juni einen neuen Landtag. Am wahrscheinlichsten erscheint derzeit eine Fortsetzung der Kenia-Koalition unter CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff mit SPD und Grünen. Auch Varianten mit FDP-Beteiligung - entweder ein »Deutschland-Bündnis« mit der SPD oder eine Jamaika-Koalition mit den Grünen - sind möglich. Die Linke, die laut aktuellen Umfragen bei zwölf bis 13 Prozent steht, dürfte bei künftigen Koalitionsgesprächen nach derzeitigem Ermessen wohl keine Rolle spielen, es sei denn, es passiert noch ein Wunder.
In der 30-jährigen Geschichte des Bundeslandes Sachsen-Anhalt waren PDS bzw. Linke bisher stets in der reinen Opposition - mit Ausnahme der Zeit des »Magdeburger Modells« . 2006 und 2011 wäre eine Koalition mit der SPD möglich gewesen, doch daraus wurde nichts. Seit der Wahl 2016 befindet sich die Linke im Abwärtstrend, und am 6. Juni könnte nun ein weiteres Desaster folgen. Zuletzt hatten die Partei und ihre Spitzenkandidatin Eva von Angern versucht, mit einem heiß diskutierten Wahlplakat auf sich aufmerksam zu machen: »Nehmt den Wessis das Kommando«.
Es dauerte nicht lange, da kam eine Idee ins Spiel, die seit geraumer Zeit im Parlamentsbetrieb umherschwirrte: eine Minderheitsregierung mit den Grünen, toleriert von der PDS. Die Idee stammte ursprünglich von Roland Claus, dem damaligen PDS-Landesvorsitzenden. Bis zum Wahltag erschien eine solche Option wenig wahrscheinlich, weil die PDS angesichts ihrer Geschichte als »unberührbar« galt. Nun aber sah der SPD-Landeschef, auch aufgrund eines Mangels an Alternativen, keine andere Möglichkeit mehr. Die Runde war sich recht schnell einig: Das »Magdeburger Modell« war geboren.
20 Stunden am Süßen See
Wenn Rüdiger Fikentscher heute über diese Zeit spricht, dann leuchten seine Augen: »Wir waren begeistert, dass wir etwas schaffen konnten, dass wir regieren konnten. Dass wir diese Freiheit genießen konnten.« Dabei war das Modell kein einfaches: SPD und Grüne teilten sich die Ministerien auf - wobei die schwachen Grünen nur das Umweltministerium erhielten - und waren dann bei Beschlüssen auf genügend zusätzliche Stimmen der PDS-Fraktion angewiesen. Eine Herausforderung für die noch junge Demokratie in Ostdeutschland. Gerade auch angesichts der unterschiedlichen Weltbilder, die dort aufeinanderprallten.
Da waren auf der einen Seite die aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR hervorgegangenen SPD und Grünen, auf der anderen Seite die PDS mit ihrer SED-Vergangenheit. Ministerpräsident Reinhard Höppner, ein Mann der Kirche, traf auf Roland Claus, der bis heute mit Stasi-Vorwürfen konfrontiert wird. Da brauchte es einen Vermittler. Und den fand man ausgerechnet bei den Grünen: Hans-Jochen Tschiche. Sowohl Fikentscher als auch Claus loben den mittlerweile verstorbenen Pfarrer als wichtiges Bindeglied des »Magdeburger Modells«. »Ohne die Grünen und vor allem Tschiche wäre es nicht möglich gewesen, diesen Schritt zu gehen«, ist sich Roland Claus sicher. Denn: »So nett waren SPD und PDS zu der Zeit noch nicht beieinander.« Wobei es im Nachhinein so scheint, als seien die Grünen zwischen SPD und PDS eher zerdrückt worden. Bei der folgenden Landtagswahl 1998 flogen sie aus dem Parlament, die von der PDS weiterhin tolerierte SPD regierte fortan allein.
Aus Sicht der PDS waren die Unwägbarkeiten nach der Landtagswahl 1994 natürlich ein willkommenes Geschenk. Man konnte sich als Stabilitätsanker präsentieren - nur vier Jahre nach dem Zusammenbruch jenes Systems, für dessen Gräueltaten man maßgeblich verantwortlich gemacht wurde. Galten die »Unberührbaren« in den ersten vier Jahren nach der politischen Wende noch als beschmutzt, war ohne sie nun nichts mehr zu machen. Gleichzeitig hatte die CDU, die bei der ersten Wahl noch haushoch gesiegt hatte, viel Vertrauen verspielt. Die PDS ergriff die sich bietende Chance. »Wir wurden in die Ecke gedrängt. Die Gefahr bestand, sich in der Ecke einzurichten«, berichtet Roland Claus. Deshalb plädierte er dafür, Gestaltungsverantwortung zu übernehmen.
Unter demokratietheoretischen Aspekten war das »Magdeburger Modell« gewiss ein spannendes. Einerseits: Die Koalition konnte nicht einfach durchregieren, das Parlament nahm eine viel stärkere Rolle ein. Andererseits: Die Entscheidungsgewalt ging ein Stück weg von den Institutionen, in die »Hinterzimmer«, in denen SPD und Grüne mit der PDS verhandelten. Ein solches »Hinterzimmer« war die Datsche von PDS-Chef Claus. Dort trafen sich im Sommer 1996 zwei junge Abgeordnete, die in den folgenden Jahren noch wichtige Rollen in der Landespolitik von Sachsen-Anhalt einnehmen sollten: Wulf Gallert (PDS) und Jens Bullerjahn (SPD).
Auch diese Idee stammte von Claus selbst: Gallert und Bullerjahn, beide Anfang 30 und noch unverbraucht, sollten als Chefunterhändler den Haushalt für das Jahr 1997 auskungeln. »Die damalige Situation war bemerkenswert schwierig, wir kamen im Landtag überhaupt nicht mehr weiter«, berichtet Claus. Also »zogen wir uns für eine Nacht an den Süßen See zurück«, so Claus. 20 Stunden hätten die Verhandlungen gedauert, und es sei »nicht nur harmonisch« abgelaufen. Aber: »Beide wussten: Wenn sie eine politische Zukunft haben wollen, dann darf das jetzt nicht schiefgehen.«
Heraus kam ein Papier, das Finanzminister Wolfgang Schaefer nicht mehr wiedererkannte. Das war »in der Tat nicht der demokratischste Vorgang«, gesteht Claus. Doch am Ende stand ein Ergebnis. Und nicht nur das: Gallert und Bullerjahn stiegen in den Folgejahren zu Galionsfiguren der Landespolitik auf. Der PDS-Mann kandidierte später für den Posten des Ministerpräsidenten - allerdings erfolglos - und ist heute stellvertretender Parlamentspräsident. Sein SPD-Kollege war zehn Jahre lang Finanzminister, wenngleich er sich in dieser Position mit einem rigiden Sparkurs nicht nur Freunde machte.
Und die CDU? Die zeterte natürlich über die Zusammenarbeit von SPD und Grünen mit den von ihr so bezeichneten »roten Socken«. Mehr noch: Sie wollte der PDS den Oppositionsstatus aberkennen, weil sie der Meinung war, diese sei bereits Teil der Regierung. In einem Organstreitverfahren entschied das Landesverfassungsgericht aber: Den Oppositionsstatus gebe nicht bereits auf, wer bei einzelnen Gesetzgebungsvorhaben und beim Haushalt kooperiere. Roland Claus sagt heute, das Verhalten seiner Partei sei »natürlich nicht planlos« gewesen. In der Tat: Es fanden sich immer genug PDS-Abgeordnete für eine entsprechende Mehrheit. »Es war eine Balance zwischen einem einigermaßen langfristig überlegten Kurs und der Achtung der Souveränität der Abgeordneten. Wenn das jemand als abgekartetes Spiel bezeichnet, ist das seine Sicht«, so Claus.
Kohl vom Thron stürzen
Bleibt noch die Frage: Was hielt eigentlich die Bundes-SPD von dem Ganzen? Die hatte schließlich zu dieser Zeit eigene Vorhaben. Sie wollte endlich den ewigen Helmut Kohl vom Kanzlerthron stürzen. »1994 ging das relativ glatt. Da haben wir es einfach gemacht. Wir brauchten auch keine Erlaubnis«, erzählt Rüdiger Fikentscher. 1998, bei der folgenden Wahl, habe es dann aber große Probleme gegeben: »Da hätten wir auch die CDU als Juniorpartner nehmen können. Das wollten wir nicht, aber das wäre der Bundes-SPD lieber gewesen. Da gab es harte Auseinandersetzungen.« Die Bundes-SPD befürchtete bei der Bundestagswahl im selben Jahr ein schlechtes Ergebnis - wegen der »Rote-Socken-Kampagne« der Union.
Der Sound aus PDS-Zeiten - Vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt setzt die Linke ganz auf das Thema Ostdeutschland
Es heißt, Kanzlerkandidat Gerhard Schröder habe Höppner untersagt, die Tolerierung fortzusetzen. »Aber richtig. Der war da nicht zimperlich. Das hat Höppner in einen extremen Konflikt gestürzt«, berichtet Roland Claus, der daraufhin eine Entscheidung traf. Er ging mit Höppner vier Stunden in den Wald, in der Nähe von Magdeburg: »Da haben wir uns die Karten gelegt.« Danach beschloss Höppner, die Tolerierung - gegen Schröders Willen - fortzusetzen. Im Jahr 2002 war dann aber endgültig Schluss, die CDU unter Ministerpräsident Wolfgang Böhmer übernahm.
Im Rückblick lässt sich sagen, dass das »Magdeburger Modell« insbesondere die Entwicklung der Landes-PDS stark geprägt hat. Die PDS und später die Linke sind in Sachsen-Anhalt stets als Parteien aufgetreten, die nicht nur Opposition sein wollen, sondern um staatliche Verantwortung kämpfen. Wulf Gallert fasst zusammen: »Wir haben erfahren, dass Politik sich nicht in Positionen oder Wunschvorstellungen erschöpft. Sondern dass das, was man will, realisierbar sein muss. Politik ist mehr als Bewegung, mehr als Demonstration. Politik ist mehr als die Fahne hochzuhalten.«
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