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Zwei-Staaten-Lösung nicht realistisch
Der israelische Historiker Ilan Pappé gilt als scharfer Kritiker der Besatzungs- und Siedlungspolitik. Für ihn sollte es künftig nur einen Staat geben
Die Konfliktparteien, Israel und Hamas, haben sich auf eine Waffenruhe geeinigt - nach elf Tagen Kämpfen mit fast 250 Toten. Was wird jetzt geschehen?
Die nächste Stufe wird eine Regelung sein, die den Status quo beibehält. Das bedeutet eine relativ kurze Zeit der Ruhe mit einer guten Chance auf einen weiteren Zyklus der Gewalt.
Ilan Pappé, geboren 1954 in Haifa, zählt zu den sogenannten Neuen israelischen Historiker, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Geschichte Israels und des Zionismus einer Revision zu unterziehen. Er lehrt seit 2007 Geschichte an der Universität Exeter und leitet dort auch das European Centre for Palestine Studies (CPS). Von 1984 bis 2006 war er Dozent am Fachbereich für Geschichte des Nahen Ostens und am Fachbereich für Politikwissenschaften an der Universität Haifa. In dieser Zeit gründete er auch das Akademische Friedensinstitut in Givat Haviva und stand dem Emil-Tuma-Institut für Palästina-Studien in Haifa vor. Seine Forschungsschwerpunkte sind der moderne Nahe Osten, insbesondere die Geschichte Israels und Palästinas. Er veröffentlicht auch zu Multikulturalismus, Kritischer Diskursanalyse sowie Macht und Wissen.
Lassen Sie uns träumen: Nach dem Ende der Kämpfe werden Israelis und Palästinenser aufeinander zugehen, sich die Hand geben und fortan in einem gemeinsamen jüdisch-arabischen Staat leben. Wie realistisch ist das?
Kurzfristig ist das überhaupt nicht realistisch. Was wir brauchen, ist nicht die Bereitschaft, die Hände zu schütteln (wir haben das schon einmal in Oslo versucht, es hat nicht allzu gut funktioniert). Was wir alle brauchen, ist, aus dem Paradigma der Parteien herauszukommen, als ob es zwei gleichberechtigte Seiten in dieser Situation gäbe. Das ist die Grundlage für einen solchen Traum: eine israelische, europäische, amerikanische, deutsche Anerkennung, dass eine Seite der Kolonisator, der Besatzer, der Privilegierte innerhalb des Staates Israel ist. Die andere Seite wehrt sich, manchmal friedlich und gewaltfrei, manchmal gewaltsam. Wenn Kolonisierung, Besatzung und Diskriminierung enden, ist das der Moment, in dem Träume von Menschlichkeit und Versöhnung wahr werden.
Sie plädieren für eine Ein-Staaten-Lösung im Nahost-Konflikt. Wie muss man sich einen solchen Staat vorstellen?
Einen demokratischen Staat, der die palästinensischen Flüchtlinge, die zurückkehren wollen, wieder aufnimmt, mit gleichen Rechten für alle, ohne Diskriminierung aufgrund von Religion, Nationalität, Rasse, Ethnie oder Geschlecht. Einer, der den Wohlstand des Landes nach den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, des Ausgleichs und der Chancengleichheit für alle umverteilt. Einer, der kollektive Identitäten respektiert, multikulturelle, multiethnische Zustände des »Leben und leben lassen«, ohne dass irgendeine Gruppe den Staat benutzen kann, um irgendwelche suprematistischen Ideologien durchzusetzen.
Und wie garantiert ein gemischter Staat die friedliche Koexistenz von Palästinensern und jüdischen Israelis?
Das Leben in einem Staat ist kein Fall einer glücklichen Liebesaffäre. Es ist aus der zionistischen Kolonisierung Palästinas und dem palästinensischen Widerstand dagegen entstanden. Es sind also offensichtlich noch Rückstände aus der Vergangenheit vorhanden. Es ist daher ein Projekt, das schrittweise aufgebaut werden muss, mit einem neuen Bildungssystem, mit Sicherheitsnetzen und Garantien, und vielleicht mit internationaler Intervention. Aber es wird etwas entstehen, von dem wir wissen, dass es existiert, wir haben es sogar in der letzten Woche gesehen. Der Grundimpuls der Menschen ist, ein normales Leben zu haben, nicht in Kämpfe verwickelt zu sein oder die Existenz des anderen zu bedrohen. Es sind vor allem die Palästinenser, denen in den letzten 74 Jahren jedes normale Leben verwehrt wurde. Wenn sie die Normalität, derer sie beraubt wurden, wiedererlangen können, werden sie eine Existenz haben. Und nur wenn sie eine Existenz haben, wird es eine Koexistenz geben.
Was wäre der Vorteil einer Ein-Staaten-gegenüber einer Zwei-Staaten-Lösung?
Es gibt zwei grundlegende Vorteile. Erstens ist sie relevanter für die Realität, die sich in den letzten Jahren vor Ort entwickelt hat. Eine ausgedehnte Judaisierung des Westjordanlandes in dem Maße, dass es keinen Platz mehr für einen unabhängigen palästinensischen Staat gibt, verbunden mit dem Verschwinden jeglicher bedeutsamer Stimmen innerhalb der israelischen Politik, die bereit sind, die Errichtung eines echten unabhängigen palästinensischen Staates im Westjordanland zu akzeptieren.
Der zweite Vorteil ist, dass sie ein Heilmittel für das Problem bietet und nicht für seine Symptome. Die Zwei-Staaten-Lösung reduziert Palästina auf 22 Prozent des historischen Palästina und die Palästinenser nur auf diejenigen, die in der Westbank und im Gazastreifen leben. Solange nicht alle Palästinenser und das gesamte historische Palästina in eine zukünftige Lösung einbezogen werden, gibt es keine Chance für eine tragfähige und echte Versöhnung.
Abgesehen von Träumen: Ist die Zwei-Staaten-Lösung nicht die realistischere Lösung?
Sie ist alles andere als realistisch. Man muss nur fünf Minuten vor Ort in der Westbank sein, um zu erkennen, dass dies keine realistische Lösung ist. Sie basiert auf der falschen Annahme, dass Israel die Palästinenser wirklich als eine Nation mit eigenen Rechten betrachtet. Wenn jemand sich Illusionen darüber gemacht hatte: 2018 kam das israelische Nationalitätsgesetz, das eine klare ethnische Trennlinie zieht und sich nicht nur auf Israel bezieht, sondern auch auf Erez Israel (das Land Israel), das historische Heimatland der Juden auch außerhalb des Staatsgebiets.
Wenn man realistisch sein will, muss man zurückgehen auf das, was viele Menschen in Israel und in den USA (unter der Hand) offen sagen. Israel hat jetzt zwei schwierige Optionen: entweder eine Demokratie zu sein, aber kein jüdischer Staat, oder ein rassistischer jüdischer Staat zu sein. Es gibt keine dritte Option. Nur in ihren Träumen können sich liberale Zionisten vorstellen, dass man einen liberalen Besatzer oder einen sozialistischen Kolonisator haben kann; in Wirklichkeit kann man das eine oder das andere sein. Die Zwei-Staaten-Lösung, selbst im Idealfall, bietet keinen Ausweg aus der Kolonisierung oder Unterdrückung.
Angesichts der Kämpfe zwischen Israel und radikalen palästinensischen Gruppen suchen Beobachter oft nach den tieferen Ursachen des Nahostkonflikts. Verorten Sie als Historiker dessen Beginn in der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948?
Sogar noch davor. Der Zionismus ist ein Siedlerkolonialprojekt. Europäische Flüchtlinge (in diesem Fall Juden), die vor Verfolgung und noch Schlimmerem flohen, suchten ein neues Zuhause und eine neue Heimat. Unglücklicherweise war der Ort, den sie wählten, bereits von indigener Bevölkerung bewohnt.
Die zionistische Bewegung war, wie alle Siedlerbewegungen, eine Bewegung der Verdrängung der Einheimischen und ihrer Ersetzung durch die Siedler. 1948 gelang ihnen das fast: Sie vertrieben die Hälfte der Bevölkerung Palästinas und übernahmen 78 Prozent des gewünschten neuen Heimatlandes. 1967 übernahmen sie die verbleibenden 22 Prozent, nahmen aber auch eine große Anzahl von Palästinensern auf. Das ist die Quelle des Problems, und die Hauptfrage ist, wie eine dritte Generation von Siedlern, die nirgendwo hingehen können, in Frieden mit der einheimischen Bevölkerung innerhalb einer politischen Einrichtung leben kann.
Bei den zahlreichen Solidaritätskundgebungen für Palästina kam es immer wieder zu antisemitischen Äußerungen, sei es in Form von Sprechchören oder Plakaten. Reimportiert Europa den - muslimischen - Antisemitismus aus dem Nahen Osten? Oder wie schätzen Sie das ein?
Die Solidaritätsbewegung mit den Palästinensern in Europa besteht aus Menschen aller Religionen, einschließlich Juden, und auch aus säkularen Menschen. Es gab dumme Äußerungen von Antisemitismus, die die Organisationen, die die Kundgebungen organisiert haben, selbst verurteilt haben. Zweitens gibt es vor allem in Deutschland, aber nicht nur dort, eine Verwechslung zwischen Antizionismus, anti-israelischen Positionen und Antisemitismus, was man an der lächerlichen Resolution des Bundestages zu BDS sehen kann.Also, Antisemitismus gibt es, er ist nicht importiert aus dem Nahen Osten, er ist und war immer ein europäisches Produkt. Einiges davon hat den politischen islamischen Diskurs beeinflusst, was eher mit der dortigen Verwechslung zwischen dem »Yahud« (»die Juden« auf Arabisch), wie Palästinenser die Soldaten und Siedler im Westjordanland und im Gazastreifen bezeichnen, und den Juden im Allgemeinen zu tun hat.
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