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Im Reich der toten Bäume
Auf einem Spaziergang durch den Harz-Wald nahe Clausthal erklärt Förster Michael Rudolph, wie der Wald im Oberharz langsam gesundet
Es ist fast wie ein Mantra: »Der Harz ist spannend, der Harz ist im Kommen,« klingt es mir immer wieder in den Ohren. Verschiedene Freunde und Bekannte, die auf der Flucht vor der Pandemie für einen längeren Aufenthalt in Deutschlands nördlichstes Mittelgebirge gereist sind, schwärmen vom Harz, der sonst nicht gerade zu den begehrtesten Urlaubszielen der Deutschen gehört.
Die Menschen in meinem Umfeld sind in Sachen Harz aber begeistert und besorgt zugleich: Sehr gut ausgebaut seien die Wanderwege, die Natur großartig. Allein die offensichtlich schlechte Situation des Waldes in den höheren Lagen sei erschreckend. Als ich mir das dritte Mal im Freundeskreis die komplette Bandbreite der Schilderungen von einer fantastischen Natur bis hin zur katastrophalen Lage anhören muss, beschließe ich, mir selbst ein Bild zu machen von diesem Ort der Gegensätze.
Ursprünglich komme ich zwar vom Land, bin nun aber schon viel zu lange ein Kind der Großstadt, als dass ich mir eine Beurteilung der Situation des Harzwaldes zutrauen würde. Also suche ich Verstärkung und Expertenhilfe. Und wer könnte in so einer Situation ein besserer Gesprächspartner sein, als jemand, der den Wald womöglich als sein erweitertes Wohnzimmer betrachtet?
Ich finde diesen Experten in Förster Michael Rudolph aus Clausthal-Zellerfeld. Wir sind verabredet. Auf der Fahrt zu seinem Forstamt passiere ich auf der Bundesstraße 4 kurz hinter Torfhaus eine Wegstrecke, die unter Insidern nur die »Allee der toten Bäume« bezeichnet wird. Links und rechts der Fahrstrecke recken sich abgestorbene, silbrig schimmernde Baumstümpfe aus einem schwachen Grün in den Wolkenhimmel. Ich unterbreche meine Fahrt und beschaue diese scheinbare Aneinanderreihung der »stehenden Toten«. Ich bin jetzt weit oben im Brockenmassiv des Nationalparks Harz. Hier haben drei Jahre Dürre und heftige Stürme tiefe Spuren hinterlassen. Und was die Unwetter mit ihrer unbändigen Kraft nicht schafften, besorgte der Borkenkäfer mit seinem kräftigen Appetit. Neben den aufrecht stehenden Baumskeletten liegt wild durcheinander dickes Totholz - als wenn böse Riesen die Stämme entwurzelt hätten, um mit ihnen Giganten-Mikado zu spielen. Doch bei näherem Hinsehen entdecke ich auf dem toten Holz überall zartes Grün, das sich zum Himmel reckt. Ein Hoffnungsschimmer, befinde ich und steige ins Auto: Weiter in Richtung Forstamt Clausthal, wo mir Förster Rudolph Rede und Antwort stehen will.
Er begrüßt mich freudig. Zum Gespräch bittet er gleich weiter in sein »erweitertes Wohnzimmer«, den Wald. Ich schildere ihm meine Beobachtungen auf der Totholz-Allee. Rudolph schmunzelt und erklärt mir, dass es müßig sei, nach einer konkreten Ursache für den Fichtentod zu fragen: »Das ist vielmehr ein Summenspiel aus den unterschiedlichen Faktoren. Wir müssen hier den Klimawandel mit seinen plötzlich auftretenden Wetterphänomenen selbstredend ins Feld führen. Man muss sich nur die traurige Situation der Talsperren in den letzten drei Sommern ansehen, und eine Natur, die jedes Jahr neuen Hitzerekorden trotzen muss, bekommt irgendwann Probleme.«
Ich entgegne, dass ich in den nächsten 10 bis 20 Jahren um den Brocken keine Wunder erwarten würde und dass die Szenerie wohl noch jahrzehntelang mehr an Tod und Verdammnis als an Wald und Wellness erinnern werde. Doch Rudolph beruhigt mich. »Wir arbeiten hier in ganz anderen Zeitfenstern, hier gibt es keine Fünfjahrespläne, hier rechnen wir in Lebensaltern. Eine Eiche muss 200 Jahre reifen, damit einem Möbeltischler das Herz aufgeht«, weist er auf den Kardinaldenkfehler von Stadtmenschen wie mir hin.
Man solle nicht vergessen, dass man direkt nach dem Krieg dringend Bauholz benötigte und die Briten aus dem westdeutschen Harzteil reichlich Bäume als Kriegsentschädigung über den Ärmelkanal schifften, so Rudolph. »Wer heute sagt, dass eine scheinbar fantasielose Aufforstung an der traurigen Situation 2020 Schuld hat, verkennt einfach die historische Situation der Nachkriegsjahre. Hier sah es 1949 in vielen Orten so aus wie in den Highlands in Schottland. Da war nicht daran zu denken, dass man Bäume im großen Stil pflanzt, die erst drei, vier Generationen später verarbeitet werden können. Hier dominierte neben dem Saatgutmangel auch die Vorstellung, dass man in den 1950er Jahren in kürzeren Etappen zu denken hatte. Deshalb fiel die Wahl auf die schnell wachsenden Fichten, um dem Baustoffmangel entgegenzutreten.«
Das betraf in der Nachkriegszeit und den folgenden Jahren natürlich primär die kommerzielle Waldwirtschaft. Der Oberharz mit seinem Nationalpark Harz beantwortet jegliche hektische Betriebsamkeit schon wesentlich länger mit einer »Schippe Entschleunigung«: »Natur Natur sein lassen«, heißt das Motto. Dort, wo früher ein kommerziell funktionierender Wirtschaftswald war, überlässt man die Natur sich selbst. Alles fließt, der Mensch greift nur flankierend in das Wachstum des Waldes ein.
Förster Rudolph versichert mir, dass der Wald komplett anders aussehen werde in Zukunft. »Wir sehen jetzt schon kleine Fichten, die sich auf dem Totholz der gestürzten Bäume ausbreiten. Dazwischen haben wir in den letzten 10 Jahren viele Millionen kleiner Laubbäume wie Rotbuchen, Erlen, Birken, Weiden und Bergahorn gepflanzt.« Der Wald werde langfristig eine ganz andere Diversität aufweisen. Auch robustere Baumarten aus Nordamerika sollen noch integriert werden. »Wer, wenn nicht wir Förster haben die Aufgabe nachhaltig zu arbeiten, und hierbei werden langfristig auch die widerstandsfähigen Douglasien und robusten Roteichen aus der Pazifik-Region Nordamerikas eine erweiterte Rolle spielen.«
Früher so typische Anpflanzungen wie die Fichtenwälder, die sich primär nur durch eine Holzart auszeichnen, sind eher Auslaufmodelle. »Bei uns in Niedersachsen haben wir schon ab 1991 mit dem Programm LÖWE (Langfristige Ökologische Waldentwicklung) den Waldwandel mit großem Einsatz vorangetrieben, wir haben haben dabei den Anteil der gemischten Baumbestände mit Laubbaumbeteiligung fast verdoppelt. Was uns zugute kommt, ist die jahrhundertelange Erfahrung mit dem Harz als Wald- und Industriekultur«, sagt Förster Rudolph.
»Wir dürfen doch nicht vergessen, dass hier untertage im großen Stil industriell gearbeitet wurde: unten wurde geschürft, oben baute man Fichten für den Stollenbau an. Das führte traditionell zu einer engen Verzahnung von Bergbau und Holzwirtschaft mit all ihren Problemen!« So habe es schon im 13., 15. und 17. Jahrhundert einen Zusammenbruch der Holzproduktion gegeben. »Auf Erfahrungen, die meine Vorgänger als Pfleger des Waldes bei der Aufforstung gemacht haben, kann ich sogar heute noch zurückgreifen - in welcher Tätigkeit gibt es noch so eine lebende Tradition?«
Der Waldspaziergang neigt sich dem Ende entgegen. Zeit für ein Resümee von Förster Rudolph, der seine Arbeit mehr als Berufung denn als Beruf ansieht: »Der Wald ist gerade in Krisenzeiten eine hervorragende Erholungsquelle und Fluchtort angesichts des Alltagsstresses. Er stellt zudem einen nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor dar: als Holzproduzent und Arbeitgeber. Die Ökologie spielte in den letzten 30, 40 Jahren auch eine wichtige Rolle, aber seien wir ehrlich: Im Bereich Biodiversität, Wasserschutz und Luftproduktion gibt es in der deutschen Landschaft nur wenig Konkurrenz für den Wald. Und dabei mitzuwirken, dass diese drei Komponenten sich weiter positiv verzahnen, treibt mich hier jeden Tag an.«
Wir verabschieden uns. Auf dem Weg zum Auto stelle ich fest, wie positiv der Wald sich auf mein Seelenheil ausgewirkt hat. Das Handy war abgestellt, der gewohnte Straßenlärm liegt in weiter Ferne. Ich passiere uralte Buchen und Eschen, unter denen es fast so dunkel wie in einem Urwald ist. Die Großstadt ist weit weg, genauso die Pandemie. Im nächsten Leben werde ich Förster.
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