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Der Kopf wie Matsch
Über »Dr. Chemo« und pharmakologische »Rettungsbojen«: Wie die Gegenwartsliteratur das Sujet der Krankheit für sich entdeckt und was sie uns gerade in Pandemiezeiten lehren kann
Schmerzen, das Gefühl, nicht mehr bei sich zu sein, eine Zukunft, die wie ein Nebelschleier anmutet. Das gemeinsame Ganze ist die Krankheit, die zahlreiche Narrative kennt: von Tumoren, Lähmungen, Depressionen bis hin zur Demenz. Kaum eine andere Zeit zuvor hat derartig viele Texte über körperliches und psychisches Leiden hervorgebracht wie die Spätmoderne.
Sie als Indiz für eine »kranke« und dekadente Gesellschaft zu lesen, klingt zwar intuitiv logisch, greift aber zu kurz. So wie jedes Schmerzempfinden subjektiv ist, so gehen auch Romane über gesundheitliche Probleme auf sehr individuelle Erfahrungen zurück. Nur welchen Nutzen versprechen sie? Und führen sie in der Pandemie nicht zum Überdruss? Ganz im Gegenteil: sie liefern Antworten, die wir dringend brauchen.
Allein die Mitteilung einer Diagnose wie bei Covid-19, aber auch das Wahrnehmen somatischer Veränderungen können einen Schock auslösen. So zu beobachten in Ruth Schweikerts »Tage wie Hunde« (2019). Als die autobiografisch gefärbte Protagonistin von ihrer Krebsdiagnose erfährt, stellt sich nicht nur das Bewusstsein darauf ein, im eigenen Körper nicht mehr zu Hause zu sein. Vielmehr kommen der Ich-Erzählerin die Begriffe dafür abhanden. Die Krankheit macht sich als eine Sprachkrise bemerkbar, die sich mitunter in einer Zunahme von Rechtschreibfehlern äußert.
Charakteristisch muten überdies die fehlenden Punkte am Ende eines Satzes an. Ihre Abwesenheit steht für eine unklare Perspektive. Wird man den Kampf gegen den Fremdkörper, in diesem Fall den »triple-negative breast cancer«, gewinnen? Wie die meisten ihrer Kollegen wusste Schweikert jedoch eines: »dass ich darüber schreiben würde; diese sofortige, unmittelbare Gewissheit ging jedem Gedanken voraus, jedem Versuch, wenigstens halbwegs zu ermessen, zu begreifen, was diese Diagnose bedeutete.«
Schreiben als autonome Tat, als Selbstvergewisserung im Ringen mit dem Tod, unbeeinflusst von »Dr. Chemo« und »Dr. Bestrahlung« - diese Strategie eint viele Autor*innen in ihren Auseinandersetzungen mit eigenen Krankheiten. Wer sie verschriftlicht, macht das begrifflose Chaos dahinter greifbar. Sprache stellt immer eine Suche nach der Form dar. Sie bedarf einer Grammatik, die den Rahmen für Mitteilungs- und Kommunikationsfähigkeit bietet. Deutlich wird dies beispielsweise in Romanen über depressive Störungen.
Was im Inneren jener von Lebensmüdigkeit erfassten Seelen vorgeht, vermag Benjamin Maack in seinem Tagebuch einer Depression veranschaulichen, das zugleich eine Introspektion der Psychiatrie gewährt, »Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein« (2020). Zwischen gänzlich weißen Seiten als Spiegel des inneren Vakuums sowie der refrainartig wiederkehrenden, alltäglichen Fragen »Wie geht es Ihnen, Herr Maack?« trifft man auf die Rede von einem »Zahnbohrerheulen in einem leeren Kopf und eine[r] Gehwegplatte auf der Brust« oder »eine[r] Turbine -- ------ im Kopf«. Obgleich solche Formulierungen dem Gefühl, sich am Abgrund zu befinden, Ausdruck verleihen, erweisen sie sich ebenso als eine Selbstermächtigung.
Denn die Autoren unterwerfen die Krankheit der künstlerischen Transformation, getreu der Devise: Was in das Wort gegossen ist, gewährt Stabilität. Für fast alle Texte über Schmerz und Leid der vergangenen Dekade lässt sich diese Art der ästhetischen Bewältigung beobachten. Flankiert wird sie von der Pharmakologie. Maack nennt Tabletten daher »weinrote Rettungsbojen« zur sinnbildlichen Bewahrung vor dem Ertrinken. Sie bewahren vor dem Suizid. Doch bereits 1996 hält der Literaturwissenschaftler David B. Morris in seiner »Geschichte des Schmerzes« fest, dass sie zugleich für eine Verengung des Blicks stehen.
Warum? Gesundheitliche Beeinträchtigung werden ihm zufolge in der Moderne zu einem Störfaktor. Indem die Medizin mit vornehmlich chemischen Lösungen auf sehr komplexe, psychosozial beeinflusste Krankheitsgeschehen reagieren, verweigere sie sich der Signalfunktion des Schmerzes: »Er zeigt uns, was wirklich zählt«. Der Philosoph Byung-Chul Han führt diese zunehmende Ignoranz gegenüber der Erkenntnisfunktion des Leidens auf die heutige Optimierungsmentalität zurück.
Die »Palliativgesellschaft« (2020), so auch der Name seines neusten Essays, »fällt mit der Leistungsgesellschaft zusammen«. Um den hohen Anforderungen der Arbeitswelt Rechnung zu tragen, würden daher jegliche Überforderungssymptome anästhetisiert. Man »entpolitisiert den Schmerz«, der aus Sicht des Kulturtheoretikers auch Symptom einer unmenschlichen Ökonomie sei.
Doch längst verharren nicht alle Romane über Krankheit in dunkler Gesellschaftskritik. Sie zeugen auch von einem Gelingen im Umgang mit dem Übel - insbesondere dort, wo Angehörige in die Rolle von Pflegenden geraten. Erst in diesem Frühjahr hat die Literaturkritikerin Gabriele von Arnim die gemeinsamen Jahre mit ihrem Mann verschriftlicht, der infolge mehrerer Schlaganfälle ihrer permanenten Fürsorge bedurfte. In »Das Leben ist ein vorübergehender Zustand«, ein sehr berührendes Werk dieser Tage, fragt sie: »Wie geht es einem, wenn alles eng wird. Wie kann man ertragen, wenn das, was in einem lebt, fast nur noch im Kopf stattfindet.
Wie hält man diese Verlassenheit aus«, während »man mitten im Leben wegzusterben beginnt.« Gleichwohl »haben [wir] das große Trotzdem gelebt«, schreibt die Weltenbummlerin, die unversehens an Haus und Mann gebunden war. Zum Glück hat sie die Trauer ins Produktive verwandt: Das Vermächtnis ihres Gatten barg einen Erfahrungsschatz für die ästhetische Verarbeitung. »Wir brauchen Geschichten, um zu leben«, sagte er zu ihr vor seinem Tod, »wir brauchen Geschichten, um das Leben zu verstehen. Erzähl es, hast Du gesagt. Und so habe ich aufgeschrieben, was das trügerische Gedächtnis mir zugespielt hat.«
Gerade auch Prosa über Demenz unterstreicht den Eindruck, dass Krankheiten durchaus schöpferische Energien freisetzen können. So zu studieren in Arno Geigers »Der alte König in seinem Exil« (2011). Obwohl das Gehirn seines Vaters allmählich »einer Drehorgel« entsprach, mit der »gleiche[n] Leier jeden Tag«, offenbart die Dokumentation des jahrelangen mentalen Abbaus eine unvergleichliche Fülle an Geschichten. Indem der Demente sich mit der »Tagesschau«-Sprecherin im Fernseher unterhält, entsteht beispielsweise eine herrlich-absurde Erzählung.
Ihr Vermögen besteht neben dem Ordnen der Dinge auch darin, Gemeinschaft und Austausch herzustellen. Einst war das Verhältnis zwischen Sohn und Vater distanziert. Just mit der gesundheitlich bedingten Veränderung der Persönlichkeit ergibt sich eine ungeahnte Nähe. Der alte Regent mag sich in sein Seelenexil zurückgezogen haben. Doch sein Nachkomme kennt den Weg dahin.
Scheinbar offenbart sich in all diesen Werken die Verletzlichkeit als das Tor zum anderen. Sinnbildlich lässt sich die Wunde als eine Schwelle verstehen. Sie gewährt buchstäblich einen Einblick in das Innere eines Menschen und regt zum Mitgefühl an. Dass sie sich schließen und öffnen lässt, hat sie mit dem Buch gemein. Sobald aus ihr eine Narbe hervorgeht, bleibt die Erinnerung bestehen - wie ein guter Text. Romane über Krankheiten lehren uns daher eine umfassende Art des Lesens.
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Es geht über das Wort hinaus und erstreckt sich auf den Körper und das gefährdete Bewusstsein unseres Gegenübers. Lektüre verbindet, insbesondere in der Annäherung an Gebrechen und Ohnmacht. So wusste schon Hermann Hesse in einer berühmten Wendung zu sagen: »Je differenzierter, je feinfühliger und beziehungsreicher wir zu lesen verstehen, desto mehr sehen wir jede Dichtung in ihrer Einmaligkeit und zugleich glauben wir dennoch, immer deutlicher zu sehen, wie alle diese hunderttausend Stimmen der Völker dieselben Wünsche träumen, dieselben Leiden leiden. Aus dem tausendfältigen Gespinste unzähliger Sprachen und Bücher blickt in erleuchteten Augenblicken den Leser eine wunderlich erhabene und überwirkliche Chimäre an: das Angesicht des Menschen, aus tausend widersprechenden Zügen zur Einheit gezaubert.«
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