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Die Sorgen bleiben
Elizabeth Beloe über die Situation von Menschen aus Einwanderungsfamilien während der Coronakrise
In einer kleinen Runde unter Chefärzten im Robert-Koch-Institut (RKI) wurde vor einigen Wochen angesprochen, dass viele der Corona-Intensivpatienten einen Migrationshintergrund hätten und dass Sprachbarrieren den Umgang mit den Erkrankten, aber auch die Prävention erschweren würden. Die »Bild«-Zeitung berichtete daraufhin, dass RKI-Chef Lothar Wieler wegen möglicher Rassismusvorwürfe eine Tabuisierung der hohen Zahl an Erkrankungen unter Menschen mit Einwanderungsgeschichte befürchte. Es passierte genau das: In vielen Medien wurden Rassismusvorwürfe gegen Wieler erhoben, als dessen Äußerung an die Öffentlichkeit kam. Wie haben Sie diese Debatte wahrgenommen?
Ich habe die Debatte auch in den Medien verfolgt. Wir vom BV Nemo wollen keine Stigmatisierung der migrantischen Communities (Gemeinschaften, d. Red.) unterstützen. Corona ist ein Thema und eine Herausforderung für uns alle. Das heißt für uns, ohne belegbare Zahlen kann man migrantischen Communities nichts in die Schuhe schieben.Elizabeth Beloe ist stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbands Netzwerke von Migrantenorganisationen (BV Nemo), der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die migrantische Organisation zu professionalisieren. Lisa Ecke sprach mit ihr über die Lage von Einwandererfamilien während der Coronakrise.
Aber geht es überhaupt um Schuldzuweisungen? Kann es nicht vielmehr förderlich sein, auf die dahinterstehenden Missstände hinzuweisen?
Schauen wir auf die Situation einiger migrantischer Menschen: beengte Wohnverhältnisse, Lage der geflüchteten Menschen in den Gemeinschaftsunterkünften, wo AHA-Regeln kaum zu befolgen sind. Darüber hinaus sind die Orientierungshinweise in Behördensprache verfasst und auch für Deutschsprachige unverständlich. Außerdem sollte unbedingt auf den Zusammenhang zwischen Armut und Corona hingewiesen werden. Armut betrifft nicht nur die migrantischen Communities. Wir müssen die Situation also wirklich differenzierter betrachten.
Wenn man über die hohen Corona-Inzidenzwerte in bestimmten Vierteln spricht, sollte der Fokus also auf die Armut gelegt und nicht angesprochen werden, dass dort auch viele Menschen aus Einwandererfamilien leben?
Man muss auch auf die Geschichte der Quartiere zurückschauen. Meines Wissens gibt es keine Viertel in Deutschland, die nur aus Menschen aus Einwander*innenfamilien bestehen. Bereits letztes Jahr haben wir als BV Nemo gesagt: Corona macht noch ungleicher. Schon vor Corona waren Menschen mit Einwanderungsgeschichte in vielen Bereichen wie Bildung, Arbeit und Gesundheit benachteiligt. Corona verschärft die Lage der Menschen.
Also sehen Sie es nicht als rassistisch an, wenn man auf den Umstand aufmerksam macht, dass Corona Menschen aus Einwandererfamilien besonders hart trifft? Es gab zuletzt Stimmen, die etwa die mobilen Impfteams in benachteiligten Stadtteilen als diskriminierend abgetan haben.
Während der Coronakrise kam es vermehrt zu rassistischen und diskriminierenden Vorfällen im Alltag. Die Pandemie wird rassistisch ausgelegt. Hilft uns das? Erst mal geht es für uns um mehr Aufklärung vor Ort, um den Communities mehr und passgenaue Informationen zu geben. Es geht auch um Begleitung zum Beispiel in Impfzentren und um persönliche Gespräche mit Menschen aus Einwanderungs-Communities. Zielführend ist es nicht, Menschen einfach so zu einem mobilen Impfzentrum hinzulotsen, ohne Informationen.
Die mobilen Impfteams sind oft auch für Informationsangebote in verschiedenen Sprachen zuständig, nicht nur für das Impfen. Bewerten Sie das trotzdem negativ?
Information ohne die Einbeziehung der Menschen aus den Communities vor Ort ist pro-blematisch. Die Rolle von Migrant*innenorganisationen ist unverzichtbar. Mobile Impfteams müssen die migrantischen Menschen vor Ort einbeziehen. Es gibt doch einen Zugang zu ihnen, sie sind direkt ansprechbar.
Sollten in jedem besonders von Corona betroffenen Viertel Menschen gesucht werden, mit denen erst gesprochen wird, bevor ein mobiles Impfteam eingesetzt wird?
Genau. Es gibt immer Migrant*innenorganisationen und ehrenamtliche Aktive, die vor Ort arbeiten. Wenn die einbezogen werden, werden auch mehr Menschen erreicht. Sie haben den Zugang zu den Menschen, und man könnte die Informationen ganz gezielt weitergeben.
Während einer Pandemie muss aber auch schnell gehandelt werden. Und gibt es wirklich in jedem benachteiligten Viertel Migrantenorganisationen? Dazu kommt doch noch, dass es ganz viele verschiedene Communities in einem Viertel gibt.
Es gibt in jeder Stadt Migrant*innenorganisationen, die einzelne Communities ansprechen. Sie sprechen eine Sprache, die die Menschen verstehen. Die Menschen kennen meistens die Beratenden dort und vertrauen ihnen. Ich weiß, es gibt viele Informationsmaterialien in verschiedenen Sprachen. Aber es ist etwas anderes, wenn man direkt miteinander spricht. Papier kann das nicht leisten. Diesen Aspekt darf man nicht unterschätzen.
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Da gibt es wohl auch nach Corona noch einiges zu tun.
Die Inzidenzen gehen zurück, aber die Sorgen der Menschen mit Einwanderungsgeschichte nicht. Es gibt immer noch viel zu viele Probleme. Warum leben viele von ihnen in beengten Wohnverhältnissen? Wie kann man diese Situation, die zu den Corona-Hotspots geführt hat, verbessern? Man muss genau hinschauen, warum viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte oft von Armut betroffen sind. Wie kriegen diese Menschen einen guten Arbeitsplatz? Warum sind so oft Menschen aus bestimmten Gruppen von Armut betroffen? Das sind für mich Fragen, die offen bleiben.
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