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Arztbesuch als Abschiebungsrisiko
Übermittlungspflicht soll aus dem Aufenthaltsgesetz gestrichen werden, damit das Menschenrecht auf Gesundheit ohne Ausnahme gilt - erst recht in Pandemiezeiten
Schätzungsweise bis zu einer halben Million Menschen leben in Deutschland ohne regulären Aufenthaltsstatus. Sie wohnen irgendwo, viele von ihnen arbeiten, beides in der Regel unter prekären Bedingungen. Ihre Kinder können aber zur Schule gehen, ohne dass die Eltern fürchten müssen, dass die Schulverwaltung sie an die Ausländerbehörden meldet. Eine entsprechende Regel gilt seit 2011. Die Begründung: Jedes Kind hat das Recht auf Schulbildung, unabhängig vom aufenthaltsrechtlichen Status.
Ganz anders ist es immer noch, wenn jemand aus der Gruppe ärztliche Behandlung braucht und sein Recht auf Versorgung in Anspruch nehmen will. Es gibt theoretisch die Möglichkeit, einen Krankenschein (und damit die Kostenerstattung) beim zuständigen Sozialamt zu beantragen und dann zum Arzt zu gehen. Aber das Sozialamt wäre verpflichtet, die Daten an die Ausländerbehörde zu melden.
In der Folge könnte die Abschiebung drohen. »Menschen verzichten auf den Arztbesuch, weil ihr Risiko zu groß ist. Damit wird ihnen aber das Recht auf eine Behandlung praktisch verwehrt«, erklärt Jérémy Geeraert vom Berliner Medibüro. Verankert ist das seit 2005 in Paragraf 87 Aufenthaltsgesetz, um alle öffentlichen Stellen zu verpflichten, bei der Abschiebung illegalisierter Menschen mitzuwirken.
Damit die Mitteilungspflicht für die medizinische Versorgung beendet wird, haben 67 Gruppen und Organisationen jetzt eine Kampagne zur Streichung des Paragrafen gestartet. Inzwischen, Stand 1. Juni, gibt es 84 Unterzeichner. Etwa 15 000 Unterschriften wurden bisher gesammelt. Zu den Initiatoren gehören die Medibüros, die bundesweit Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus dabei unterstützen, im Krankheitsfall einen Arzt zu finden. Sie übernehmen die Kosten, finanzieren sich aus Spenden und kooperieren mit solidarischen Medizinern, die ihre Arbeitszeit spenden.
Etwa 1000 Arztbesuche im Jahr vermittelt allein das Medibüro Berlin. Ebenso verhelfen Clearingstellen hier und in zehn weiteren Bundesländern Menschen ohne Krankenversicherung (darunter auch Deutsche und andere EU-Bürger) zu einer Behandlung. Hinzu kommen die Malteser oder Ärzte der Welt mit Anlaufstellen in vier Großstädten. Die Arbeit all dieser Organisationen kann jedoch nicht für alle Betroffenen den gleichen Status erreichen, den Bundesbürger mit ihrer Krankenkassenkarte haben.
Viele der Anlaufstellen sind nicht immer erreichbar und können nicht für jedes medizinische Problem eine Lösung bieten - weil sie zum Beispiel in ihrem Netzwerk nicht den entsprechenden Facharzt haben. Zudem ist viel vom Einsatz von Ehrenamtlichen und von Spenden abhängig. Selbst wenn staatliche Gelder in bestimmte Projekte wie die Clearingstellen fließen: »Es handelt sich um gedeckelte Summen.
Und die wiederum hängen von der politischen Konstellation ab. Wenn sich in einem Bundesland die Machtverhältnisse ändern, kann das für die Arbeit das Aus bedeuten«, erläutert Jeannie Moser, ebenfalls vom Medibüro Berlin. Deshalb ist die Kritik an Parallelstrukturen groß. Dort, wo sie vorhanden sind, übernehmen sie mehr schlecht als recht Aufgaben, die eigentlich der Sozialstaat erfüllen müsste: Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist schließlich ein universelles, verbrieftes Menschenrecht. Der Staat ziehe sich hier aber aus der Verantwortung.
»Manche Patienten kennen wir seit 15 Jahren«, sagt Moser. »Es erniedrigt Menschen, wenn sie nicht direkt zum Arzt gehen können. Vor allem aber steigt das Risiko, dass sich Krankheiten verschlimmern und chronifizieren«, ergänzt Geeraert. »Sie haben zudem keine freie Arztwahl und selbst in der Behandlung nicht die gleichen Rechte wie andere Patienten.«
Besondere Aktualität erhält das Anliegen der Kampagne in der Corona-Pandemie. So hatte die WHO im vergangenen Jahr die Regierungen weltweit aufgefordert, alle Menschen zu testen und zu behandeln. Vor einem Jahr schickten die Medibüros einen offenen Brief an Bundesgesundheits-, -innen- und -arbeitsministerium sowie an die Gesundheitsministerkonferenz der Länder. Darin forderten sie eine schnelle bundesweite Lösung für die Versorgung der unversicherten Menschen.
Antwort: keine. Zwar hieß es offiziell immer wieder, für das Virus seien wir alle gleich, es mache keinen Unterschied und frage nicht nach der Staatsangehörigkeit. Wirklich ernst gemeint war das offensichtlich nicht. In Berlin haben selbst die Unterkünfte von Asylbewerbern nur in wenigen Fällen Besuch von mobilen Impfteams bekommen.
Jedoch haben Krankenhäuser die Pflicht zur Behandlung von Notfällen, unabhängig von der Herkunft der Patienten oder deren Versicherungsstatus. Die Kliniken wenden sich zur Kostenerstattung im Regelfall an die zuständige kommunale Behörde, etwa das Sozialamt. Krankenhäuser und Ärzte müssen keine Meldung über einen eventuellen illegalen Aufenthalt an die Polizei weitergeben, es sei denn, die öffentliche Sicherheit ist in Gefahr, heißt es von der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG).
»Die Abrechnung über das Sozialamt ist möglich, ohne dass dieses eine Meldung an die Ausländerbehörde abgeben muss«, so ein DKG-Sprecher gegenüber »nd«, und zwar wegen des »verlängerten Geheimnisschutzes« des Paragrafen 88 Aufenthaltsgesetz. Er gilt nicht nur für medizinisches Personal, sondern auch für Verwaltungsmitarbeiter der Kliniken.
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Der Linken im Bundestag gelang es in dieser Legislaturperiode nicht, einen Antrag zur Streichung des Paragrafen 87 Aufenthaltsgesetz einzubringen. Jedoch unterstützt etwa die Abgeordnete Gökay Akbulut, migrationspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, das Anliegen der Kampagne der Medibüros und weiterer Nichtregierungsorganisationen: »Die Übermittlungspflicht muss abgeschafft werden! Gesundheit ist Menschenrecht. So steht es in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Es ist eines von mehreren Menschenrechten, die Papierlosen in Deutschland vorenthalten werden.«
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