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Die offenen Fragen
DER KHAN-REPORT: Warum bekam der Mord an Walter Lübcke so wenig Aufmerksamkeit?
Vor genau zwei Jahren ermordete der Rechtsradikale Stephan E. den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor dessen Haus. Dass der Mord an einem CDU- Politiker durch einen bekannten und in der rechten Szene gut vernetzen Neonazi so wenig Aufmerksamkeit erregte, irritiert bis heute.
Welche Rolle spielte der Verfassungsschützer Andreas Temme beim Mord an Halit Yozgat in Kassel? Andreas Temme hatte dienstlich schon mit Stephan E. zu tun gehabt. Ob der Mord an Walter Lübcke, geplante Anschläge des rechten Bundeswehrsoldaten Franco A. aus Offenbach oder die Anschläge in Hanau - immer wieder fällt auf: Hessen, rechte Terroranschläge und der NSU, das hat Kontinuität. Und trotzdem weigert sich Hessens schwarz-grüne Koalition weiterhin, die geheim gehaltenen Akten zu den Morden des rechtsterroristischen NSU offenzulegen. Eine Offenlegung würde eventuell viele Fragen beantworten. Zum Beispiel, ob und wie sehr der Verfassungsschutz, zum Beispiel in Kassel, involviert war. Oder ist. Und hätte der Mord an Walter Lübcke vielleicht sogar verhindert werden können? Immerhin hatte Stephan E. weitreichende Kontakte zum NSU-Umfeld. Vielleicht hätten die Behörden ihm schon viel eher das Handwerk legen können.
Im Jahr 2016 hätten sie die Möglichkeit gehabt. Damals soll er dem irakischen Geflüchteten Ahmed I. ein Messer in den Rücken gerammt haben. Ahmed I. wurde lebensbedrohlich verletzt. Er, der in Deutschland Schutz vor Terror und Gewalt gesucht hatte, war erst vor wenigen Wochen angekommen. Am Abend des 6. Januar 2016 änderte sich sein Leben für immer. Es wird im Umfeld seiner Unterkunft ermittelt.
Wir erinnern uns an die Jahre nach den NSU-Morden, als die Soko »Bosporus« als Erstes im Umfeld der Opfer ermittelte, die Familien kriminalisierte und für rassistische Narrative in den Medien sorgte.
Als wenige Wochen nach dem Anschlag auf Ahmed I. Hakenkreuze auf dem Gehweg vor seinem Haus auftauchen, will er umziehen. Doch weder Polizei noch die Behörden können, oder wollen, ihm helfen. »Ich habe mein Land verlassen, um Schutz zu finden, aber hier wurde mein Leben zerstört«, sagt Ahmed I. vor Gericht.
Der Generalbundesanwalt ist sich sicher: Den Anschlag auf Ahmed hat Stephan E. verübt. Viele Indizien sprechen dafür: E. wohnte in der Nähe des Tatorts, er besaß ein ähnliches Fahrrad wie der Täter, und man fand ein Messer bei ihm.
Im Januar 2020 verkündete das Oberlandesgericht in Frankfurt das Urteil: Stephan E. wird wegen der Ermordung Walter Lübckes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Doch vom Anklagepunkt des versuchten Mordes an Ahmed I. wird er freigesprochen. Die Beweise reichten nicht aus. Auch der Mitangeklagte, Markus H., Waffenbeschaffer und bekannter Neonazi, wird nicht zur Beihilfe des Mordes an Lübcke verurteilt.
Wenn die Justiz enttäuscht, die Politik sich weigert, was bleibt uns dann noch? Ob Solingen, Mölln, Halle oder Hanau - immer wieder müssen zivilgesellschaftliche Initiativen, Organisationen und Vereine die Arbeit derer übernehmen, die eigentlich dafür Sorge zu tragen haben, dass wir in Sicherheit leben können. Und während Rechtsterroristen weiterhin migrantische Menschen ermorden, Journalist*innen, Antifaschist*innen und Politiker*innen auf Feindeslisten stehen und Morddrohungen erhalten, rechtsradikale Soldaten Waffenlager anlegen und regelmäßig rechte Chats und Netzwerke bei Polizist*innen »aufgedeckt« werden, beschließt die hessische Landesregierung die NSU-Akten nicht offenzulegen. Seit Ende März tagt jetzt auch der Untersuchungsausschuss zum Mordfall Walter Lübcke öffentlich im hessischen Landtag und befragt momentan noch Sachverständige. Ob es hier neue Erkenntnisse geben wird, ist abzuwarten.
Abdurrahim Özüdoğru, Theodoros Boulgarides, Süleyman Taşköprü und İsmail Yaşar - vier der zehn bekannten Morde des NSU ereigneten sich im Juni. Auch wenn die Morde zum Teil 20 Jahre zurückliegen: Es sind noch immer viele Fragen offen, viele Umstände ungeklärt. Und auch das hat Kontinuität in Deutschland.
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