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In der neuen Realität angekommen
Warum der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj deutsche Waffenlieferungen fordert
Es sind harte Töne, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seinem Interview mit der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« anschlägt. Zum einen greift Selenskyj den Vorschlag des grünen Ko-Vorsitzenden Robert Habeck auf, der in der vergangenen Woche während einer Ukraine-Reise die Lieferung deutscher Defensivwaffen angeregt hatte. Berlin wäre in der Lage, Kiew militärische Hilfe zu leisten, betonte Selenskyj,
Nicht weniger bemerkenswert waren andere Aussagen. So bekräftigte der Präsident nicht nur den Wunsch Kiews nach einer Nato-Mitgliedschaft, sondern übte auch Kritik: »Es gibt Länder, die gute Beziehungen zu Russland haben und die Ukraine nicht in der Nato sehen wollen. Hier stellt sich die Frage, ob diese Konstruktion so stark und mächtig ist. Das zeigt deren Zerbrechlichkeit.« Es gebe da durchaus Parallelen zwischen der Nato und der EU. Zudem kritisierte Selenskyj die Entwicklungen im sogenannten Normandie-Format zur Beilegung des Donbass-Krieges, zu dem neben der Ukraine Deutschland, Frankreich und Russland gehören - und befürwortete neue, globalere Formate.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
»Auf der letzten Sitzung der politischen Berater fragte der russische Vertreter unsere europäischen Partner, ob Russland eine Konfliktpartei sei«, erläuterte der 43-Jährige. »Die Vertreter Deutschlands und Frankreichs konnten keine direkte Antwort geben. Mit dieser vorsichtigen Diplomatie sind wir nicht einverstanden!« Selenskyjs Aussagen belegen erneut seinen geänderten Blick auf die Außenpolitik und speziell die Beziehungen zu Russland. Der einst als Friedenspräsident angetretene Selenskyj ist in einer neuen Realität angekommen, die ihm wenig Freiräume gibt.
Zentral ist dabei der Frust über das faktische Scheitern seiner Friedensoffensive. Seit Selenskyjs Amtsantritt vor zwei Jahren hat die Ukraine vieles versucht, um das Schießen an der Frontlinie im Donbass zu beenden. Beispielsweise führte die für Kiew riskante Truppenentflechtung an einigen Schlüsselorten der Front dazu, dass im zweiten Halbjahr 2020 eine vergleichbar erfolgreiche Waffenruhe in der Ostukraine herrschte. Die erneute Intensivierung der Kämpfe seit Jahresbeginn und der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze im Frühjahr begruben Kiews Illusionen.
Zudem ist die Ukraine auch wegen der Entwicklung in Belarus besorgt. Seit 2014 fungierte Minsk als eine Art informeller Brücke zwischen Kiew und Moskau - nicht nur als Schauplatz der Donbass-Verhandlungen oder als wichtiger Transitort nach dem Verbot von direkten Flügen zwischen der Ukraine und Russland, sondern auch als Vermittler beim Öl- und Stromhandel. Kiew war der große Einfluss des Kremls auf Belarus bewusst. Dennoch war es komfortabler, solche Fragen mit Hilfe von Minsk zu lösen. Seit Beginn der Proteste in Belarus im August 2020 haben sich die Kontakte mit Belarus minimiert. Kiew schloss sich auch einigen EU-Sanktionen an.
Doch es ist vor allem der Protassewitsch-Fall, welcher Minsk für die Ukraine eindeutig zur russischen Einflusszone macht. Aus Kiewer Sicht hat Belarus nach der Entführung des Journalisten nun gar keine Wahl mehr, als sich noch mehr dem Kreml anzunähern. Selenskyj sieht das als ernste Sicherheitsbedrohung und befürchtet eine Vertiefung der militärischen Zusammenarbeit von Minsk und Moskau. Für Kiew ist das nicht unwesentlich, die Länge der gemeinsamen Grenze mit Belarus beträgt mehr als 1000 Kilometer. Die Ukraine sei von Norden, Osten und Süden umzingelt, ließ Selenskyj durchblicken. Zudem werden Zweifel lauter, ob Minsk noch als Verhandlungsort zum Thema Donbass tauge.
All das macht Selenskyjs Forderungen aus ukrainischer Perspektive zumindest nachvollziehbar. Ob deutsche Waffenlieferungen an Kiew oder eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft die Lage in der Region tatsächlich verbessern würden, ist realpolitisch stark zu bezweifeln. Der Wunsch der Ukraine, sich besser verteidigen zu können, ist aber umso verständlicher, wenn man Selenskyjs Friedenspolitik der vergangenen zwei Jahre betrachtet. Und diese war zwischenzeitlich viel erfolgreicher als anfangs angenommen.
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