Das zweite Geheimnis von Börnersdorf

Im Erzgebirge laufen Erkundungen für einen Bahntunnel auf der Trasse Dresden-Prag, der einmal der längste in Deutschland sein soll

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 10 Min.

Das »Mysterium von Börnersdorf« ist mit weißem Flatterband abgegrenzt. Trotzdem sieht es auf den ersten Blick nicht gefährlich, sondern recht harmlos, um nicht zu sagen idyllisch aus. Ein von Bäumen umgebener Teich in einer Senke, dahinter weite Wiesen, am Horizont Wald. Der Kamm des Erzgebirges ist nicht weit, wie auch die Autobahn von Dresden nach Prag. Weil diese aber hinter einem Hügel verläuft, ist sie weder zu hören noch zu sehen. Das hat sie mit dem Mysterium gemeinsam. Es sei »unscheinbar«, räumt Sabine Kulikov ein. »Und trotzdem gibt es uns bis heute Rätsel auf.«

Kulikov redet nicht über historische Tagebücher, und hinter dem weißen Flatterband ist auch kein Flugzeug abgestürzt. An so etwas könnte zuerst denken, wer den Namen »Börnersdorf« hört. Der 270 Einwohner zählende Ort im Osterzgebirge wurde schon einmal mit einem Rätsel, wenn nicht gar einem Mysterium in Verbindung gebracht. Am 21. April 1945, in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, stürzte in dem Dorf ein Flugzeug ab. Die Maschine vom Typ Junkers 352 gehörte zum letzten Aufgebot der NS-Reichskanzlei. Weil die Absturzstelle umgehend strikt abgesperrt und trotz der Wirren der letzten Kriegstage sogar eine Untersuchungskommission eingesetzt wurde, gab es wilde Gerüchte. So wurde gemutmaßt, zu den Passagieren habe Adolf Hitler gehört.

Auch der Umgang mit der Fracht sorgte für Spekulationen, direkt nach dem Absturz - und erneut 35 Jahre später, als zwei westdeutsche Journalisten im Ort recherchierten. Im November 1980 befragten Gerd Heidemann und Thomas Walden, zwei Journalisten vom »Stern«, Bewohner von Börnersdorf. Im Frühjahr 1983 publizierte das Magazin die auch auf diesen Recherchen basierende Geschichte um die angeblichen Hitler-Tagebücher, von der sich freilich umgehend herausstellte, dass es sich um Fake News handelte. Die vermeintlichen Tagebücher hatte der in Sachsen gebürtige Kunstfälscher Konrad Kujau fabriziert; er war es auch, der Heidemann und Walden auf die Börnersdorfer Spur ansetzte. 1992 kam der auf dem Fall basierende Film »Schtonk« in die Kinos, und das sächsische Dorf ging damit, wenn auch am Rande, in die Filmgeschichte ein.

An diesem regnerischen Frühlingstag geht es in Börnersdorf aber nicht um Geschichte. Kulikov präsentiert auch keine angeblichen Kladden mit der Handschrift des Führers, sondern komplizierte Skizzen, auf denen Begriffe wie »Osterzgebirgskristallin« und »Orthogneis« auftauchen oder »Problemzonen« im Gestein erwähnt werden. Das zweite »Mysterium von Börnersdorf« kann mit dem Glanz der grandiosen Posse um Kujau nicht ganz mithalten; es ist eine irdischere, genau genommen sogar eine unterirdische Geschichte. Kulikov ist Geologin und als solche Angehörige der Berufsgruppe, die als allererste vom aktuellen Geheimnis von Börnersdorf fasziniert ist - oder der »Börnersdorfer Störung«, von der sie auch spricht.

Folgen für Reisende und Steuerzahler

Was es damit auf sich hat, sollen schmale Holzkisten erklären, die Kulikovs Kollegen an einem Feldweg aufgereiht haben. Sie enthalten je einen Zylinder aus Stein, einen Meter lang, dick wie ein Arm. Es sind Bohrkerne, die Hunderte Meter unter Teich, Wiese und weißem Flatterband aus dem Berg geschnitten wurden. Manche sind dunkelgrau, aus einem Stück und im Wortsinn hart wie Stein. Sie bestehen aus Gneis, wie er unter dem Erzgebirge zu erwarten ist. Andere aber sind blassrosa, von Rissen durchzogen, und sie bröseln in der Hand. Es handelt sich um Gesteine aus der Kreidezeit, wie man sie im Elbsandsteingebirge findet, im oberen Erzgebirge aber nie vermuten würde. Warum sie doch hier auftauchen - »dieses Rätsel«, sagt Kulikov, »müssen wir für die Zukunft auflösen«.

Die Spannung, die sie zu erzeugen sucht, springt zugegebenermaßen nicht unmittelbar auf Laien über. Die Frage, wie bröckelndes Gestein vom Grund eines vorzeitlichen Meeres sich in eine geologisch gänzlich andere Formation verirren konnte, wirkt doch zu sehr wie eine Denksportaufgabe für Fachleute, die Normalbürger nicht aus dem Sessel reißt. Doch das trügt. Die »Börnersdorfer Störung« könnte große Auswirkungen haben: für Bauleute, Reisende, Steuerzahler.

Grund dafür ist ein Bauvorhaben, das einmal 250 Meter unter Flatterband und Feldweg verwirklicht werden soll: ein Bahntunnel, der auf einer Neubautrasse von Dresden nach Prag das Erzgebirge von Nord nach Süd unterqueren und mit mindestens 25 Kilometern das längste derartige Bauwerk Deutschlands sein soll. Und nicht nur das: Das Bauwerk soll in einem europäischen Verkehrskorridor die Häfen in Norddeutschland mit Tschechien und Ungarn, Bulgarien und der Türkei verbinden. Sachsens Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) spricht mit Pathos von einem »großen europäischen Tunnel«.

Derzeit rollen Züge zwischen Dresden und Prag durch das Elbtal südlich von Sachsens Landeshauptstadt. Die Trasse gerät indes an ihre Kapazitätsgrenze. 2016 überquerten 30 827 Züge die Grenze bei Bad Schandau, Tendenz stark steigend. Nur am Rhein bei Basel ist grenzüberschreitend noch mehr Betrieb. Nicht zuletzt wegen vieler nachts fahrender Güterzüge ist die Lärmbelastung für Bewohner im Elbtal enorm. Ein Ausbau der Trasse in der Sächsischen Schweiz kommt auch aus Naturschutzgründen nicht infrage. Und die wegen der kurvenreichen Strecke bescheidene Geschwindigkeit sei überdies »nicht marktkonform«, wie im Bundesverkehrswegeplan zu lesen ist. Dort wurde daher 2016 die Alternativstrecke aufgenommen, die das Erzgebirge unterqueren soll.

Derzeit laufen noch die Planungen; etwa ab dem Jahr 2030 könnten sich die Tunnelbohrmaschinen durch das Gebirge fressen. Wenn sie dabei freilich in instabile und poröse Schichten wie die »Börnersdorfer Störung« kommen, sind Probleme unausweichlich. Zwar wären derlei Schwierigkeiten technisch heutzutage zu beherrschen, sagt Martin Walden, der Konzernbeauftragte der Deutschen Bahn AG für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. »Aber es wird sehr schnell sehr teuer und zeitaufwendig.« Es droht sich ein Vorhaben weiter zu verteuern, für das schon jetzt mit etwa einem Jahrzehnt Bauzeit kalkuliert wird und dessen Kosten im aktuellen Bundesverkehrswegeplan mit satten 1,2 Milliarden Euro veranschlagt werden, die 217 Millionen für die Planung noch nicht einmal eingeschlossen.

Um derlei unangenehme Überraschungen zu vermeiden, gibt die DB Geld für Bohrungen aus. Seit Ende 2020 läuft eine erste Erkundungskampagne. Teil davon sind zwei dröhnende und milchiges Kühlwasser absondernde Maschinen, die in den Wiesen bei Börnersdorf stehen und sich bis in 400 Meter Tiefe vorarbeiten: eine senkrecht nach unten, eine schräg in den Grund, jeweils zehn bis 15 Meter Vortrieb am Tag. Es gehe vor allem darum, die Ausdehnung der »Störung« zu erkunden, sagt Ottomar Grentz, der einst Sachgebietsleiter im sächsischen Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie war und inzwischen Berater für die DB ist.

Grentz hat dafür gesorgt, dass die Bahn immerhin weiß, wo sie entlang der künftigen Tunneltrasse mit einem ernsten Problem rechnen muss. Bis vor gut zehn Jahren war das Börnersdorfer Mysterium nicht bekannt und also in keiner geologischen Karte verzeichnet. Dann studierte Grentz für eine hydrogeologische Untersuchung alte Unterlagen, die teils auch aus Bohrungen der Wismut stammten. Die hatte in den 60er Jahren in der Region nach Uran gesucht. Zuvor hatte sie den Kernbrennstoff, der in die Sowjetunion geliefert wurde, ab 1946 im Westerzgebirge gefördert. Dann wurden neue Lagerstätten gesucht.

In Königstein an der Elbe wurde sie fündig. Die Bohrungen am Kamm des Erzgebirges blieben aus Sicht der Wismut ohne Erfolg. Den heutigen Geologen gaben die alten Daten indes erste Hinweise auf die »Problemzone« in Börnersdorf, die nun in diesem Frühjahr genauer erkundet wird. Zunächst mit nur 20 Meter tiefen Probebohrungen sowie mit physikalischen Verfahren, die Kulikov als unterirdisches »Ultraschallbild« beschreibt. Erst danach wurden die Maschinen für die Tiefenbohrungen aufgefahren. Der Grund: Bohren ist, so die Geologin, »zwar die präziseste, aber auch mit Abstand die teuerste Methode der Erkundung«.

Mittlerweile ist klar: Die Störungszone ist etwa 500 mal 600 Meter groß - und reicht mindestens 300 Meter in die Tiefe. Bei den Geologen sorgt das für »Erstaunen«, sagt Kulikov. Sie rätseln, ob es sich um den Schlot eines urzeitlichen Vulkans handeln könnte, in dem sich der »Bodensatz« eines kreidezeitlichen Meeres absetzte, das vor 100 bis 70 Millionen Jahren die Region bedeckte. Überreste der einst 400 Meter mächtigen Sedimentschicht bilden heute die bizarren Felsen des Elbsandsteingebirges. »Hier oben auf dem Gebirgskamm«, sagt Ottomar Grentz, »ist sie dagegen eigentlich längst abgetragen«.

In einer Stunde von Dresden nach Prag

Für die Bahn und ihre Bauleute ist weniger wichtig, wie die Börnersdorfer Störung entstand, als vielmehr, wie tief sie reicht. 250 bis 300 Meter unter der Wiese und den beiden Bohrmaschinen soll einmal der Eisenbahntunnel verlaufen. Absehbar ist nun, dass er wohl nicht jenseits des weißen Flatterbands entlanggeführt wird: in der Störungszone, in der es an Stabilität mangelt und mit eindringendem Wasser zu rechnen ist. »Das zeigt«, sagt Grentz, »wie wichtig eine Vorstellung von Geologie für so einen Tunnelbau ist.«

Freilich: Die Verhältnisse im Untergrund sind nur ein Faktor, der bei der Planung der Strecke zu berücksichtigen ist. Es geht, sagt Konzernbeauftragter Walden, auch um Auswirkungen auf Natur und Umwelt, um Lärm - und nicht zuletzt um betriebswirtschaftliche Faktoren. Die Bahn will »in einer Stunde von Dresden nach Prag« fahren, wie sie auf Warnwesten bereits wirbt. Gegenüber der Trasse durch das Elbtal soll die Fahrzeit für Personenzüge von 135 auf 52 Minuten sinken, womit die Reise schneller ginge als mit dem Auto. Güterzüge bräuchten wegen niedrigerer Geschwindigkeiten zwar länger, die Fahrzeit soll aber dennoch um zwölf Prozent unter der jetzigen liegen.

Welche Trassenführung den Anforderungen am besten gerecht wird, ist offen. Nachdem im August das Raumordnungsverfahren abgeschlossen wurde, seien noch zwei Varianten in der Prüfung: eine, die nach dem Abzweig von der bisherigen Strecke komplett im Tunnel verläuft, und eine, die teils oberirdisch geführt wird, zum Beispiel über eine 40 Meter hohe Brücke über dem landschaftlich reizvollen Seidewitztal. Eine 2018 gegründete Bürgerinitiative wehrt sich gegen diese Variante. Sie fürchtet erhebliche Zumutungen für die Anwohner sowohl während des Baus als auch im späteren Betrieb. Es dürfe »keine Verlagerung des Lärms aus dem Elbtal« in die Region südlich von Pirna geben, fordert sie. Dass die Landesdirektion Sachsen als zuständige Prüfbehörde die Tunnel- und die teils offen verlaufende Trasse weiter parallel prüfen lässt, sei »nicht zufriedenstellend«, erklärt die Initiative.

Noch ist nicht entschieden, welche Variante am Ende gebaut wird. Es gebe »keine Vorfestlegungen«, sagt Minister Dulig. Auch die Bahn, betont ihr Beauftragter Walden, sei »ergebnisoffen«. 2024 soll feststehen, welche Trasse den Anforderungen am nächsten kommt; das letzte Wort darüber, welche gebaut wird, hat der Bundestag. 2027 soll das Planfeststellungsverfahren beginnen. Läuft alles zügig, wäre 2030 Baubeginn. Er wolle den Tunnel »mit meinen Urenkeln nutzen«, sagt der 47-jährige sächsische Verkehrsminister, »vielleicht auch schon mit meinen Enkeln«.

Offen bleibt, ob das Mammutprojekt dann die Erwartungen erfüllt. Marco Böhme, Verkehrsexperte der Linken im Landtag, rechnet nicht mit einer Entlastung des Elbtals. Neue Verkehrswege erzeugten in der Regel mehr Verkehr, und ohnehin werde der Gütertransport bis 2040 »um ein Vielfaches« steigen, wenn sich die Wirtschaftsweise nicht grundlegend ändere. Er warnt zudem davor, den Lärmschutz im Elbtal zu vernachlässigen - unter Verweis auf einen Tunnel, der erst in zwei Jahrzehnten fertig sei.

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Vor allem fürchtet Böhme, dass über dem Enthusiasmus für die Gebirgsquerung »das eigentliche Schienennetz in Sachsen vergessen wird«. Zwischen den Großstädten Leipzig und Chemnitz etwa verkehrten »Mittelalterzüge auf eingleisiger, nicht elektrifizierter Strecke«. Auch die Reaktivierung vieler seit 1990 stillgelegter Trassen lasse auf sich warten. Sie wäre wegen der Werksanschlüsse für eine Verlagerung von Güterverkehr auf die Bahn ebenso wichtig wie ein mindestens 25 Kilometer langer Tunnel unter dem Erzgebirge. Dieser sei »ein Projekt für Europa und den Bund«, sagt Böhme. »Von einem sächsischen Minister erwarte ich, dass er sich um sächsische Strecken im Hier und Jetzt kümmert.«

Derlei Grundsatzdebatten werden freilich nicht auf der Wiese im Gebirge geführt. Dort arbeiten sich noch einige Tage lang die Bohrer vor - 400 Meter in den Untergrund und damit näher und näher an die Auflösung des »Rätsels von Börnersdorf«.

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