Sondervotum nach dem Showdown
Opposition sieht in der Wirecard-Affäre »kollektives Aufsichtsversagen« und verlangt personelle Konsequenzen
Das Wirecard-Debakel wäre »verhinderbar« gewesen. So zumindest stellt sich die Affäre für drei Oppositionsparteien im Bundestag dar, deren Vertreter von einem »kollektiven Aufsichtsversagen« sprechen. Der Skandal um den Zahlungsdienstleister sei auch von einem »politischen Netzwerk« ermöglicht worden, heißt es in einem Sondervotum im Wirecard-Untersuchungsausschuss, das die Obleute Fabio De Masi (Die Linke), Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) und Florian Toncar (FDP) am Montag in einer gemeinsamen Pressekonferenz vorstellten.
Der inzwischen insolvente Zahlungsdienstleister Wirecard hatte im Sommer 2020 eingeräumt, dass 1,9 Milliarden Euro aus der Bilanz nicht aufzufinden waren. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Bilanzfälschung, Betrug, Marktmanipulation und Geldwäsche.
Vorher habe es eklatante Versäumnisse von Aufsichtsrat, Abschlussprüfern, Aufsichts- sowie Ermittlungsbehörden gegeben, so die Obleute übereinstimmend. Unterm Strich stehe »ein milliardenschweres Behördenversagen«. Olaf Scholz (SPD) trage als Finanzminister die politische Verantwortung für die Finanzaufsicht Bafin, die auf allen Ebenen versagt habe: »Statt nach Möglichkeiten zu suchen, um aufsichtsrechtlich tätig zu werden, suchte man nach Gründen, um nicht tätig zu werden.« Politik und Aufsicht hätten »Partei ergriffen für ein deutsches Börsenwunder«, ergänzte De Masi.
Deutliche Kritik äußern die Oppositionsparteien in ihrem 675 Seiten starken Votum auch am jahrelangen Wirecard-Bilanzprüfer EY. »Die Prüfungstätigkeiten waren schlicht ungenügend.« Eine kritische Grundhaltung sei nie erkennbar gewesen, obwohl es schon seit 2008 Alarmzeichen gegeben habe.
Wäre es nach der schwarz-roten Bundesregierung gegangen, dann hätte es den Untersuchungsausschuss nie gegeben. Noch im September hatte die Koalition argumentiert, ein, zwei Sondersitzungen des Finanzausschusses reichten aus, um den größten deutschen Bilanzskandal abzuhaken. Erst auf Antrag der Opposition konstituierte sich der Ausschuss im Oktober. Im April kam es dann zum großen Showdown: An drei aufeinanderfolgenden Tagen wurden nach und nach Staatsministerin Dorothee Bär (CSU), Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) in den Zeugenstand gerufen. Zum Schluss befragte der Ausschuss Kanzlerin Angela Merkel (CDU).
Der Ausschuss befragte den offiziellen Angaben zufolge bis Ende Mai 109 Personen mündlich oder schriftlich - darunter ehemalige Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Wirecard AG, Wirtschaftsprüfer, Angehörige von Aufsichtsinstitutionen, der Bundesbank und oberster Bundesbehörden. Für diesen Dienstag hat der Ausschussvorsitzende Kay Gottschalk (AfD) weitere Zeugenvernehmungen angekündigt.
FDP-Finanzpolitiker Toncar hatte am Wochenende bereits Finanzminister Scholz aufgefordert, wegen des Wirecard-Skandals »zumindest« zwei seiner Staatssekretäre zu entlassen. Es gebe immer neue Beweise für Behördenversagen, auch bei der Geldwäschebehörde FIU. »Sie hat Anfang 2019 von der Commerzbank den perfekten Hinweis auf den Betrug erhalten und nichts weiter veranlasst.« Allein dafür müsse Scholz bei der Behörde und im Ministerium Konsequenzen ziehen. Bislang stand allerdings auch die Forderung nach Rücktritt des SPD-Kanzlerkandidaten als Minister im Raum.
Auch der stellvertretende Vorsitzende der Linke-Fraktion, Fabio De Masi, sieht eine »erhebliche Verantwortung« der Anti-Geldwäschebehörde im Wirecard-Skandal, für die ebenfalls Scholz zuständig ist. Die Einheit des Zolls hatte seit 2017 zahlreiche Verdachtsmeldungen gegen Wirecard und seine Manager bekommen, schritt jedoch kaum ein. Lediglich zwei Meldungen gab sie im Jahr 2019 an das zuständige Landeskriminalamt Bayern weiter. Die Staatsanwaltschaft fand jedoch nach eigener Aussage keinen Anfangsverdacht für eine begangene Straftat. Unter dem Deckmantel der laxen deutschen Aufsicht habe Wirecard daher ungestört weltweit Geldwäsche betrieben, so Lisa Paus.
Verärgert zeigten sich die Oppositionspolitiker auch wegen fehlerhafter Informationen staatlicher Stellen. Es sei der Eindruck erweckt worden, dass der Geldwäsche-Einheit vor der Wirecard-Pleite keine bedeutsamen Verdachtsmomente vorlagen.
Nach dem Sondervotum von Linken, Grünen und FDP sind die Koalitionsfraktionen von Union und SPD am Zug, die die Sache natürlich anders sehen. Sie werden den eigentlichen Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses veröffentlichen. Darüber hinaus soll es von der AfD ein Sondervotum geben. Im Bundestagsplenum sollen alle Berichte dann am 25. Juni debattiert werden.
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