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  • Hyperinflation in Venezuela

Wenn die Preise rennen

Wie die Bevölkerung Venezuelas mit der Hyperinflation umgeht

  • John Mark Shorack
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Corona-Pandemie treibt sie noch weiter an: Venezuelas Hyperinflation. Seit Präsident Nicolás Maduro 2013 an die Macht kam, ist die Wirtschaftsleistung des Landes um 90 Prozent eingebrochen. Aber nichts macht den Venezolaner:innen so sehr zu schaffen wie die rasante Geldentwertung, die den Überlebenskampf erschwert. Da ist auch die Erhöhung des Mindestlohnes am 1. Mai 2021 nur ein weiteres Hinterherhinken: Er stieg um 288,8 Prozent, beträgt nun 7 Millionen statt 1,8 Millionen Bolívares. Umgerechnet handelt es sich derzeit um knapp 2,10 Euro. Selbst mit dem »Lebensmittelbonus« von 3 Millionen Bolívares ist das zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Ein Kilo Fleisch kostet in Venezuela Anfang Mai etwa 3,12 Euro.

»Venezolanos hacen magia (Venezolaner:innen greifen zur Magie)«, sagt Pedro López*, wenn er zu beschreiben versucht, wie sich die Bevölkerung der Hauptstadt Caracas durch die Krise laviert. Pedro ist als Techniker fest in einem Ministerium angestellt. Sein Monatslohn liegt knapp über dem Mindestlohn – womit er derzeit noch ein Kilo Käse kaufen kann. Angesichts der Einkommensverhältnisse bleibt es ein Rätsel, wie die Menschen über die Runden kommen. »Wenn ich dir das erkläre, würdest du es nicht verstehen«, sagt López. Stattdessen sei es wichtig, die gesamte Lage in den Blick zu nehmen.

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Dieser Artikel stammt aus OXI - Wirtschaft anders denken. OXI ist eine ökonomiekritische Monatszeitung, die exklusiv für nd-Abonnent*innen in »nd DIE WOCHE« beiliegt. Es liefert ökonomische Hintergründe und Analysen. Mehr über OXI gibt es hier.

Seit mehreren Jahren leidet Venezuela an einer tiefen Wirtschaftskrise. Im Jahr 2013 – als Maduro dem verstorbenen Hugo Chávez nachfolgte – machte Erdöl 85 Prozent der Ausfuhren Venezuelas aus, auch der Staatshaushalt hängt vom Ölgeschäft ab. Doch 2014 fiel der Erdölpreis rapide und sank in den Folgejahren weiter ab. Laut Zentralbank schrumpften die Einnahmen aus Ölexporten auf ein Drittel – rund 72 Milliarden Dollar – und gingen bis 2018 auf knapp 30 Milliarden zurück.

Mit den schrumpfenden Einnahmen sank Venezuelas Importkapazität massiv, was die Preise auf dem heimischen Markt in die Höhe trieb. 2014 meldete Venezuelas Zentralbank eine Inflation von 69 Prozent, damals die höchste der Welt. 2018 betrug sie dann offiziell 130.000 Prozent, der Internationale Währungsfonds schätzte sie damals sogar auf 1,3 Millionen Prozent. Inzwischen ist die Inflationsrate auf vierstellige Ziffern gesunken. Für dieses Jahr werden 5.500 Prozent prognostiziert.

Krisenverschärfend wirkten seit 2015 die von den USA unter Barack Obama erstmals verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela und den staatlichen Ölkonzern PDVSA, die sukzessive immer wieder verlängert und erweitert wurden. Zusammen mit innenpolitischen Fehlentscheidungen und weit verbreiteter Korruption beschleunigten sie den Absturz.

Es ist ein ehernes Gesetz, dass Hyperinflation den ärmeren Teil der Bevölkerung stärker betrifft, weil durch die rasante Geldentwertung der Überlebenskampf noch unberechenbarer wird. Zwar hat sich das Güterangebot in den Läden seit Ende 2018 wieder verbessert, nachdem die Regierung mehrere Reformen auf den Weg gebracht hatte und dadurch Privatinvestitionen anregte, doch das Problem der exorbitant hohen Preise besteht weiter. In manchen Vierteln gibt es Zucker aus Brasilien und Maismehl aus Kolumbien, in anderen Vierteln gibt es US-Produkte wie Rasierer, Müsli und Toilettenpapier analog zum Angebot von Supermärkten in den USA. All dies sind Importprodukte, die gegen harte US-Dollars ins Land kommen und deren Preise in die Höhe geschnellt sind.
Die heimische Währung Bolívar taugt wegen des permanenten Verfalls nicht mehr als Wertmaßstab. Alle Preise sind in US-Dollar ausgezeichnet – in Supermärkten, auf öffentlichen Märkten und sogar an den informellen Straßenständen. Die Käufer:innen dürfen mit Dollarscheinen oder in Bolívares zum aktuellen Wechselkurs auf dem Parallelmarkt zahlen, der um ein Vielfaches über der offiziellen Notierung liegt. Als Bargeld werden Bolívares kaum verwendet.

»Die Leute versuchen zu überleben, indem sie Stück für Stück kaufen und auf Sonderangebote achten«, erzählt Luis Sandoval* per Telefon. Er arbeitet in einem Café im Zentrum der Hauptstadt. Ein Teil der gekauften Güter ist für den Wiederverkauf bestimmt. »Die Leute investieren in dem Sinne, dass sie knappe Güter kaufen und mit Aufschlag weiterverkaufen.« An den Hauswänden in Caracas lehnen Schilder, die auf den Verkauf von Kuchen, Kaffee, Eis und vielen anderen hausgemachten Produkten hinweisen. Nebentätigkeiten der einen oder anderen Art sind in Venezuela üblich, um über die Runden zu kommen. Auch bei Pedro ist das der Fall. Er repariert Handys, Computer und Fernseher in seinem zur Werkstatt umfunktionierten Wohnzimmer. Eine Reparatur verschafft ihm das 5- bis 20-Fache seines offiziellen Lohns. Gleichzeitig verkauft seine Frau, die in Vollzeit arbeitet, in ihrer Freizeit Käse und Eis aus der Küche.

Sobald der Lohn in den eigenen Händen ist, gehen die meisten Venezolaner:innen sofort in den Laden. Dann wird das gesamte einheimische Geld in Lebensmittel umgesetzt, in Waren zum Tausch oder zum Wiederverkauf. Auch nur ein oder zwei Tage zu warten würde einen großen Verlust bedeuten. Für dieselbe Menge Bolívares gäbe es dann schon deutlich weniger Gegenwert an Gütern. Teils werden die Bolívares auch direkt in Dollars getauscht, um die Kaufkraft zu erhalten und zu sparen. Eine große Hilfe für viele sind die sogenannten »remesas«, die Rücküberweisungen von Verwandten aus dem Ausland, einmalige Bonuszahlungen in Bolívares seitens der Regierung und die monatlichen Lebensmittelpakete, die die Regierung Bedürftigen zukommen lässt. Auf alle Fälle steht fest: Die Venezolaner:innen essen weniger als in der Ära von Hugo Chávez (1999-2013), und die wenigsten tun dies freiwillig.

Gefährdet wird die Lieferung von Lebensmitteln in jüngster Zeit allerdings auch durch die neueste Runde von US-Sanktionen Ende 2020. Zuvor war es dem venezolanischen Ölkonzern PDVSA trotz früherer Sanktionen erlaubt, mit europäischen Unternehmen Rohöl gegen Diesel zu tauschen. Diesel wird hauptsächlich für Traktoren, Busse und Lastwagen benutzt. Seit November ist nun auch das Tauschen verboten, weil US-Präsident Donald Trump die Sanktionen ausgeweitet hat, womit den europäischen Firmen bei Zuwiderhandeln Sanktionen gedroht hätten. Zu alledem kommt nun auch noch die Corona-Pandemie. Strenge Quarantänemaßnahmen bedeuten, dass die fast 50 Prozent der Bevölkerung, die im informellen Sektor arbeiten, öfter nicht zur Arbeit gehen können und damit wichtige Einkünfte verlieren.

Beim täglichen Überlebenskampf helfen den Venezolaner:innen alternative, basisorientierte Lebensmittelproduktionsketten, die bereits nach dem Amtsantritt von Chávez gebildet worden sind. Die »Fundación Pueblo a Pueblo« ist eines von diesen Projekten, um das Land direkt mit der Stadt zu verbinden. »Bei Pueblo a Pueblo sind rund 140 kleine Produzenten zusammengeschlossen. Sie haben es geschafft, mehr als 10.000 Familien hier in Caracas zu ernähren«, sagte Ana Graciela Barrios.

Barrios ist Teil des Kollektivs »Surgentes«. Sie begleitet seit sechs Jahren das Viertel San Agustín. Sie hat in dieser Zeit die Kooperative »Unidos San Agustín Convive« mitgegründet. »Von 2016 an begannen wir mit einem Prozess von sogenannten Tagen des organisierten Konsums. Das bedeutet, dass die Gemeinde, angeführt von der Kooperative ›Unidos San Agustín Convive‹, sich alle 14 Tage versammelte, um den Genossen und Genossinnen von ›Pueblo a Pueblo‹ ein Gesuch zu unterbreiten, mit unseren Wünschen an Gemüse, manchmal Getreide und Früchten und sie belieferten die Gemeinde direkt«, erklärt Ana. Ohne Zwischenhändler lassen sich die Preise um 60 bis 80 Prozent senken, zumal es ein solidarisches Entgegenkommen von »Pueblo a Pueblo« gibt.

Im Mai 2021 sieht es nicht so aus, als wäre ein Ende der Wirtschaftskrise in Venezuela in Sicht. Die Venezolaner:innen haben inzwischen gelernt, durch Nebenjobs, Selbstinitiative und mit Hilfe von außen mit der Inflation zurechtzukommen. Für viele geht das mit einer prekären Lage einher. Sie werden noch viel »Magie« brauchen.

*Die Befragten baten um Anonymisierung

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