Märchen-Tatort sanfte Wildnis

Nordhessen, Heimat der Gebrüder Grimm, lädt wieder Gäste ein. Rund um den Hohen Meißner können sie durch Fachwerkstädte und fossile Urzeitmeere streifen oder im Kellerwald am Edersee auf Urzeitreise gehen

  • Carsten Heinke, Kassel
  • Lesedauer: 9 Min.

Still ist es, ganz still. Kein Vogelruf, kein Fröschequaken. Der Mischwald ringsum hüllt sich ebenso in Schweigen wie der Frau-Holle-Teich. Die sagenhafte Wettermacherin, überlebensgroß und handgeschnitzt, schaut - mit einem Kissen in der Hand - hölzern aus dem Schilf herüber. Der von hohen Bäumen dicht umrahmte See scheint ein Geheimnis zu bergen. Seit Alters her galt er als »Eingang in die Anderswelt«. Im Märchen der Gebrüder Grimm ist er der Brunnen, durch den Gold- und Pechmarie zu ihrem Schicksal finden.

Die Neugier reizt, es selber zu probieren und in das dunkle Nass zu springen. Doch lieber nicht! Auch wenn man weiß, dass das »bodenlose Gewässer« an keiner Stelle tiefer als 2,60 Meter ist. Schließlich lässt sich der Frau-Holle-Berg bequem zu Fuß bezwingen. Bis zum knapp 754 Meter hohen Gipfel, der Kasseler Kuppe, erheben sich die sanften Hänge des Hohen Meißner. Doch obwohl es eher wie ein Hügel auf dem Fulda-Werra-Bergland liegt, zählt das kleine Mittelgebirgsmassiv zu den dominantesten Erhebungen in Deutschland. Erst ein 59 Kilometer weit entfernter Ausläufer des Großen Inselsbergs ist höher. Beim Wandern hier erblüht die Fantasie. Das Wissen um die Märchen, die Jacob und Wilhelm Grimm im 19. Jahrhundert in diesen Breiten sammelten, weckt Kindheitserinnerungen.

Vom Erdboden verschluckt

Namentlich zwar in keinem der »Kinder- und Hausmärchen« erwähnt, bietet auch eine 17 Hektar große Karstlandschaft nahe dem Hohen Meißner Stoff für fantastische Geschichten: die Kripp- und Hielöcher bei Frankershausen. Das fragile Skelett dieser sonderbaren Berg-und-Tal-Landschaft bilden fossile Überbleibsel des 250 Millionen alten Zechsteinmeeres. Hanna Wallbraun erklärt sie: »Es sind Dolomit- und Gipsfelsen sowie Senken und Trichter, die durch Auflösung der weichen Gesteine und den Zusammenbruch von Höhlen entstehen.« Wegen Einsturzgefahr dürfe sich hier keiner ohne Guide bewegen, mahnt die Wanderführerin.

Am so genannten Kuhloch berichtet Hanna Wallbraun vom letzten großen Unfall, der sich 1958 ereignete: »Ein Bauer lud Heu auf einen Karren mit zwei Rindern. Plötzlich sank eines davon in den Boden ein. Indem er es mit Hilfe des anderen herausziehen wollte, versank schließlich auch dieses. Binnen Kurzem waren beide Tiere verschwunden. Erst Jahre später fand man ihre Knochen, 31 Meter tief.«

Wurden früher Vieh oder Menschen auf diese Weise vom Erdboden verschluckt, scheint der Glaube an Hexerei plausibel. Dennoch sind die Kripp- und Hielöcher mit ihren duftenden Wacholderheiden und wunderschönen kleinen wilden Orchideen eher ein Garten Eden. Um die besondere Flora und Fauna des Biotops zu erhalten, nutzt man es wie einst als Schafweide.

Zarte Leckereien vom »Meißner Lamm«, »Ahle Wurscht« und frisches Bäckerbrot warten nach der Tour in der Jausenstation Weißenbach auf alle Wanderer, bevor sie am nächsten Tag das wunderschöne Werratal per Rad und Paddelboot erkunden. Wer stattdessen lieber durch die historischen Gassen von Eschwege bummeln will, sollte »Lieschen vom Schloss« durch die malerische Altstadt begleiten. Nach einem Spaziergang durch das Kur- und Fachwerkstädtchen Bad Sooden-Allendorf kann man bei einem Mittelalteressen im Ratskeller Heidenspaß erleben.

In einem Wald vor unserer Zeit

Sonnenlicht hüpft durch die dicht belaubten Buchenkronen. Dazwischen blitzen kleine, strahlend blaue Fetzen. Ist das Himmel oder Wasser? Inka Lücke lacht. Wie an so vielen Stellen im bergig-hügeligen Kellerwald kann das selbst die junge Försterin nicht immer mit Gewissheit sagen. »Es ist der Edersee«, weiß sie nun sicher. Die 39-Jährige im Wanderoutfit, die für den Nationalpark arbeitet, ist mit Kamera und Schreibzeug auf Kontrollgang unterwegs. Ihr heutiges Expeditionsrevier: der Urwaldsteig.

Der 68 Kilometer lange Wanderweg verläuft - bergauf, bergab - in mehreren »Etagen« am Edersee entlang, meist direkt am Ufer, manchmal mit etwas Abstand und bis zu 521 Meter hoch gelegen. Und so wie sich der angestaute Eder-Fluss als schmaler, langgestreckter See durch Nordhessens formenreiches Bergland schlängelt, tut es ihm der Rundweg nach. Aufmerksam gleicht Inka ihn mit ihren Karten ab und notiert Beobachtungen.

Nicht weit vom Wanderparkplatz Kirchweg bei Bringhausen bleibt sie vor einer wunderschönen alten Eiche stehen. »Eine Hute«, sagt die studierte Waldfrau. »In der Vergangenheit hütete man unter solchen einzeln stehenden Bäumen - meist Eichen oder Buchen - Schweine und anderes Vieh«, erklärt sie. Die Tiere ernährten sich von deren Früchten wie auch von Pflanzen, die darunter wuchsen. So hielten sie den Hutebäumen Platz zum Wachsen frei, düngten sie und sorgten für Gedeih und gutes Futter in Form von Eicheln oder Eckern. Ganze Wälder wurden so zu Weideland - ohne dass der Wald gerodet werden musste.

Baumsenioren-Wohngebiet

Finkenschlag und Bienensummen. Zwischen glatten Schieferfelsen plätschert eine Quelle. Viele Hundert davon sprudeln aus den Tiefen des Gesteins und suchen ihre Wege durch den Wald. Hin und wieder tauchen Eichen auf und Ahorn, auch Birken, Ulmen oder Nadelbäume. Dazwischen Haselnuss- und Weißdornsträucher.

Dominiert wird dieser Lebensraum jedoch von Buchen. Schon fast 10 000 Jahre sind sie hier daheim - so lange, wie in fast ganz Europa. »Kein anderer Baum hat unseren Kontinent seit der letzten Eiszeit so geprägt«, sagt Inka Lücke und streichelt einen Stamm, den dichtes Moos wie Fell bedeckt. Gut zwei Jahrhunderte ist diese Buche alt, so schätzt sie.

Weil die Baumart so flexibel ist, kommt sie mit ganz verschiedenen Bedingungen zurecht. Sie gedeiht sowohl im Küstenraum als auch im Bergland. Übrig ist heute von einstmals flächendeckenden Beständen nur noch sehr wenig. Eines der fünf deutschen Weltnaturerbegebiete nimmt ein Viertel des Nationalparks Kellerwald-Edersee ein.

Neben vielen jungen, dünnstämmigen und glattrindigen Exemplaren mittlerer bis mächtiger Statur sind es vor allem hochbetagte, vom Alter krumme Bäume mit tief zerfurchter Borke, die den Charakter dieser einzigartigen Gemeinschaft prägen. Manche Bäume sind bald 300 Jahre alt. »Urwaldrelikte« nennt Inka Lücke diese Baumseniorenwohngebiete.

Eines der schönsten ist die sogenannte Wooghölle an den steilen Nordhängen des Arensbergs. Wie verwunschene Gestalten ragen die bizarren Protagonisten dieser Landschaft aus dem kargen Boden. Oft stehen sie auf nacktem, dunkelgrauem Sedimentgestein: Tonschiefer und Grauwacke - geschaffen von den Wassermassen eines Urzeitozeans vor Hunderten von Jahrmillionen. Die knorrigen, bemoosten Holzgespenster sind von den Spechten oft schon stark durchlöchert.

Einige der greisen Buchen klammern sich, die lichte Krone immer noch erhoben, fast kriechend an den Felsen fest. Auch bei denen, die bereits Ruinen oder Körpern ohne Glieder ähneln, sprießt noch immer junges Grün. Und selbst die toten Bäume, die liegen bleiben dürfen - so wie sie umgefallen sind, stecken voller Leben. Vor einem hat sich Inka Lücke hingehockt. Mit Kennerinnenblick scannt sie den morschen Stamm: Wie dicke Elefantenfüße schauen ganze Zunderschwammfamilien aus dem bröseligen Holz. Schon seit langer Zeit machen es sich die Scheibenpilze darin gemütlich.

Paradies für Urzeitwesen

Auch Völkerschaften von Insekten haben sich hier häuslich eingerichtet. Neben Ameisen und Hautflüglern interessieren die Expertin insbesondere die Totholzkäfer, für die der weiche, nährstoffreiche Mulm der Buchenleichen das Schlaraffenland bedeutet. »Da ist einer!« ruft die Waldführerin hocherfreut und zeigt auf ein unscheinbares, etwas mehr als einen Zentimeter langes, bläulich-schwarzes Krabbeltier: »Ein Veilchenblauer Wurzelhalsschnellkäfer.«

In seiner Eigenschaft als so genannte Urwald-Zeigerart genießt der vom Aussterben bedrohte Winzling quasi Kultstatus im Nationalpark. Ihre sehr spezielle Lebensweise mit langwierigen Entwicklungszyklen bindet diese wenig bewegungsfreudigen Käfer auf lange Zeit an einen Standort. »Sie brauchen totes Holz und gleichbleibende Umweltbedingungen wie Feuchtigkeit und Temperatur. Das bietet ihnen nur ein sehr alter und auf sich selbst gestellter Wald«, so die Expertin.

Dass am Edersee so viele Urwaldreste überdauern konnten, verdankt man nicht zuletzt der Jagdlust und dem Egoismus einer Handvoll Adliger. Da die »Ederhöhen« Exklusivrevier von Waldecks Fürsten waren, blieb außer den gelegentlichen Schießereien die Natur in großem Maße unter sich.

Selbst rare Spezies wie der scheue Schwarzstorch oder die andernorts schon längst verschwundene, bis in den Juli hinein zwischen Felsen blühende Pfingstnelke eiszeitrelikt konnten überleben. Viel Wald vernichtet wurde dennoch. Denn mangels Regeln fand vom Mittelalter bis etwa 1800 stellenweise regelrechter Kahlschlag statt. Erst im 19. Jahrhundert wurde aufgeforstet.

Felsenböden wie auch steile Hänge verhinderten auf weiten Flächen eine Nutzung. Die Waldwirtschaft war hier nie wirklich von Bedeutung. Stück für Stück ging sie im 20. Jahrhundert zurück. Der große Tier- und Pflanzenreichtum rief den Naturschutz auf den Plan. Am Ende stand der Neuanfang: 2004 wurde der Nationalpark Kellerwald-Edersee gegründet.

Tipps

Anreise: Eine Zug- und Busfahrt von Berlin über Hannover, Kassel-Wilhelmshöhe und Bad Wildungen nach Waldeck am Edersee dauert ca. 4 Stunden 40 Minuten, eine Autofahrt knapp 5 Stunden (430 km). Meißner-Germerode erreicht man am besten mit dem Auto über die A38 Richtung Göttingen, Abfahrt Eschwege/Bad Sooden-Allendorf, B27, L3243 Richtung Frankenhain/Frankershausen.

Erleben: Hauptwanderwege in der Nationalparkregion ist der Urwaldsteig Edersee (68 km). Südlich des Sees verläuft er durch Rotbuchenwälder, am Nordufer (streckenweise zusammen mit dem Knorreichenstieg) durch Trockeneichenwälder. Er ist in sechs Etappen aufgeteilt und kann in drei bis sechs Tagen erwandert werden. 19 kurze Rundwege für Tagestouren ergänzen die Hauptroute. Sein Wegzeichen ist ein weißes UE auf blauem Grund. Über 14 Nationalparkeingänge (Wanderparkplätze) sind alle Wege gut erreichbar. www.urwaldsteig-edersee.de

Das Nationalparkzentrum Kellerwald vermittelt jede Menge Wissen - multimedial und interaktiv - auf erlebnisreiche und unterhaltsame Weise für die ganze Familie.

www.nationalparkzentrum-kellerwald.de

Der 250 m lange, bis 30 m hohe Baumkronenpfad Tree Top Walk bietet lehr- und erlebnisreiche Spaziergänge in luftiger Höhe mit großartigen Aussichten auf den Edersee und seine Wälder sowie Schloss Waldeck. www.baumkronenweg.de

Viele Vertreter der einheimischen Fauna kann man im Wildtierpark Edersee aus nächster Nähe sehen, darunter Wölfe und Luchse. www.wildtierpark-edersee.eu

Aussichtsreiche Schiffsrundfahrten auf dem Edersee gibt es ab Waldecker Strandbad täglich ab 11 Uhr mit stündlichem Start (100 min, letzte Fahrt 17 Uhr: 50 min) sowie an Edertalsperre West (tgl. ab 10.30 Uhr mit stdl. Start, 100 min, letzte Fahrt 16.30 Uhr: 50 min).

www.personenschifffahrt-edersee.de

Durch den Naturpark Meißner-Kaufunger-Wald führen Premiumwanderwege von 7 bis 22 km Länge. Für gesunden Spaß sorgt der Barfußpfad Hoher Meißner. Zu dem 1500 m langen Erlebnisweg auf dem Frau-Holle-Berg gehören 30 Stationen.

www.naturparkfrauholle.land

Auf dem idyllischen Werratal-Radweg etwa mit einem Leih-E-Bike der Stadtwerke Bad Sooden-Allendorf. Abholung und Abgabe der Räder in der Tourist-Info am Kurpark

www.bad-sooden-allendorf.de

Ein großer Outdoor-Spaß mit Naturgenuss sind Wanderungen auf der Werra per Kanu oder Kajak, www.werratal-tourismus.de

Die Recherchen wurden unterstützt von Tourismus Grimmheimat Nordhessen.

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