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Zeiten des Aufruhrs

Weltweit gibt es zahlreiche Revolten. »Der kommende Aufstand«, so der Titel eines berühmten Buches, war vor ein paar Jahren in aller Munde. Sind wir nun mittendrin?

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 8 Min.

Aufstände sind in den vergangenen Jahren immer mehr zum festen Bestandteil des globalen sozialpolitischen Ereignishorizonts geworden. Das schon vor fast anderthalb Jahrzehnten vom anarchistischen Autorenkollektiv Unsichtbares Komitee im linksradikalen Theorie-Bestseller »Der kommende Aufstand« beschriebene Phänomen erlebt derzeit nicht nur eine Verstetigung, sondern weitet sich eher aus. Aber was steckt hinter dem Aufstand als kollektiver Aktion? Wie konnte es in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einer Verstetigung dieses Revolutionsaktivismus en miniature kommen, während gleichzeitig die Sicherheitsapparate der Staaten ausgebaut und Versammlungsrechte wie etwa in Kanada, Spanien oder Hongkong eingeschränkt wurden?

Als 2007 das Manifest »Der kommende Aufstand« im französischen Original erschien, war die Entwicklung nicht abzusehen: ob aktuell in Kolumbien, zuletzt in Chile oder im Irak und Libanon, in Hongkong, Myanmar oder den urbanen Ballungszentren der USA, wo Protestforscher eine so breite außerparlamentarische Bewegung wie zuletzt Ende der 1960er ausmachten. Ob in Frankreich, wo die Polizei 2016 nach fast einem halben Jahrhundert die Wasserwerfer zur Aufstandsbekämpfung wieder aus den Depots holte, oder vor rund zehn Jahren im Zuge der Protestbewegungen in Spanien und Griechenland, in Brasilien, Katalonien, der Türkei, nicht zu vergessen in den Bewegungen des »Arabischen Frühlings«.

»Der kommende Aufstand« muss aber im Kontext seiner Entstehung gelesen werden. 2005 kam es in den Banlieues zahlreicher französischer Städte zu aufstandsartigen Revolten. Ein Jahr später erlebten die französischen Innenstädte massive, auch militante Proteste gegen eine geplante Reform der Arbeitsgesetzgebung. Gemeinhin wird angenommen, dass die Verfasser des Manifests deckungsgleich mit dem Autorenkollektiv Tiqqun sind, das in seinen Büchern auch immer wieder Bezug auf die großen Ausschreitung bei Antiglobalisierungsprotesten zu Beginn der 2000er Jahre von Göteborg bis Genua nimmt. Dass dann auf die Ereignisse in Frankreich 2008 in Griechenland und 2011 in Großbritannien ganz ähnliche Aufstandsszenarien folgten, deren Auslöser ebenfalls der gewaltsame Tod junger Menschen im Zuge polizeilicher Kontrollen waren, ließ bereits jene Verstetigung erahnen, die in den folgenden Jahren durch transnationale, aufeinander Bezug nehmende Protestbewegungen eine neue außerparlamentarische Bewegungswelle auslöste, die im Grunde mit Unterbrechungen bis heute anhält. Dabei weisen die Aufstände, soweit sie sich überhaupt in einen Topf werfen lassen, ebenso zahlreiche Gemeinsamkeiten wie große, kaum überbrückbare Unterschiede auf.

Globales Protestgeschehen

Die Sozialproteste in Ländern des Globalen Südens, angefangen von Occupy Nigeria (2012) bis hin zu den Protestbewegungen im Irak oder im Libanon in den vergangenen Jahren, sind kaum mit der Protestwelle in den USA nach dem Tod von George Floyd oder dem gerne zum »Hamburger Aufstand« verklärten Protestgeschehen rund um den G20-Gipfel in Hamburg (2017) vergleichbar. Wie ließen sich die Gezi-Park-Revolte (2013) und die militanten Kämpfe in Hongkong (2019/20) gegenüberstellen, um daraus etwas abzuleiten, das diese Ereignisse miteinander in einem Zusammenhang bringt? Im Fall von Chile und Kolumbien scheint das wesentlich einfacher zu sein, wobei sich Protestbewegungen weltweit durchaus aufeinander beziehen.

Nicht zuletzt die Flut bewegter Bilder in sozialen Netzwerken ermöglichen eine, wenn auch nur passive Teilhabe am globalen Geschehen. Es entstehen Verknüpfungen, wenn in Ägypten ebenso ein Schwarzer Block auftaucht (2013) wie in den urbanen Ballungszentren der USA oder Europas und das amerikanische CrimethInc-Kollektiv diesen Aktivist*innen im arabischen Raum in einem offenen Brief solidarische Grüße übermittelt und sie in ihrem Modus radikalen militanten Ausagierens bestärkt. In Myanmar findet die aus der herrschaftskritischen Science-Fiction-Blockbuster-Trilogie »Hunger Games« entliehene Grußformel von drei erhobenen Fingern in der aufständischen Praxis Verwendung. Und der in Hongkong und Frankfurt (bei Blockupy) aufgeklappte Regenschirm ist längst fester Bestandteil einer globalen Protestkultur mit hohem Wiedererkennungswert geworden.

Dass derartige, mitunter sogar aus fiktionalen, weltweit bekannten Narrativen entliehene Gesten, die Bilder der Riots im Netz und die zahlreichen Live-Streams eine kollektive, globale Ästhetik des Aufstands mit entwerfen und reproduzieren, liegt auf der Hand. Aber wie steht es mit inhaltlichen Parallelen oder Entsprechungen? Ein Stehsatz der transnationalen Protestbewegungen zu Beginn der 2000er Jahre (und ein Stück weit auch eine, wenn man so will, feuilletonistische Weiterentwicklung von Colin Crouchs Idee der postdemokratischen Repräsentationskrise) war die Vorstellung, dass hier ein Mangel an politischer Repräsentation ausgeglichen werden sollte. Das mag durchaus stimmen, aber etwa auch bei den Protesten der »Empörten« in Spanien standen von Anfang an ökonomische Aspekte mit im Vordergrund, so dass »Wir sind keine Ware« einer der meist benutzten Leitsprüche dieser Bewegung wurde, die auch immer stark auf die Finanzkrise Bezug nahm, die wie ein Beschleuniger für die Protestbewegungen und Aufstände zu Beginn der 2010er Jahre wirkte.

Die Platzbesetzungen von New York über Madrid bis Istanbul und Athen vor gut zehn Jahren waren eben auch ganz praktische Aneignungen des öffentlichen Raums, der eine immer weitergehende Privatisierung erlebt. Relativ deutlich wurde dies auch bei der Gezi-Park-Revolte, in der es zu Beginn vor allem darum ging, den Umbau einer öffentlichen Grünfläche zu verhindern. Dass daraus auch eine Revolte gegen das Regime Erdogan wurde, zeigt, dass sich jede Protestbewegung auch immer in einem aktuellen politischen Ereignishorizont bewegt und daran andockt, auch wenn es nicht ursächlich nur gegen Erdogans Autoritarismus, Macrons Rentenpolitik oder Trumps rassistische Hetze geht.

Vom Streik zum Aufstand

Eine der ergiebigsten Arbeiten zu den global um sich greifenden Aufständen der vergangenen Jahre legte 2016 der an der Universität von Davis (Kalifornien, USA) lehrende Literaturwissenschaftler und prämierte Lyriker Joshua Clover vor, dessen polizeikritische Äußerungen schon Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen waren. »Riot, Strike, Riot« erscheint nun endlich auf Deutsch. Im Gegensatz zum aktivistischen Manifest des Unsichtbaren Komitees, das sich mit den aktualisierten Interventionstexten »An unsere Freunde« (2015) und mit »Jetzt« (2017) noch zwei Mal anlässlich der sich ausbreitenden Protestbewegungen zu Wort meldete, bietet Clovers marxistischer Ansatz eine Analyse des derzeitigen Aufstandsphänomens und ordnet es historisch inklusive einer weiterführenden Perspektive ein.

Der Titel »Riot. Strike. Riot« beinhaltet bereits eine knappe Inhaltsangabe. Wurde der Riot, also der spontane Sozialprotest in der frühen Neuzeit und bis hinein ins 19. Jahrhundert, vom Streik der organisierten Arbeiterbewegung abgelöst, folgt im Spätkapitalismus wieder der Riot als Aktionsmodus jener, die Clover als das Surplus-Proletariat bezeichnet: die Gruppe der Überflüssigen, die aus den Produktionsprozessen herausfallen und mit Transferleistungen abgespeist werden. War im 18. und 19. Jahrhundert der Markt der Ort, an dem Protestbewegungen wie Preisrevolten begannen, verlagerte sich der Kampf durch die organisierte Arbeiterschaft in die Sphäre der Produktion. Heute hingegen wird wieder »auf dem Markt«, nämlich in der Sphäre des Konsums innerhalb der Städte, um politische und ökonomische Teilhabe gestritten und gekämpft.

Die ganze Welt hasst die Polizei

Clover versteht den Akt der Plünderung als einen ökonomischen Kern dieser Riots, die - egal ob der Flachbildschirm oder Lebensmittel angeeignet werden - die Reproduktion des Surplus-Proletariats ermöglichen. Clovers Buch ist von einer amerikanischen Perspektive geprägt, das Thema Rassismus nimmt eine zentrale Rolle ein. Er betont, dass sozialökonomische Prekarisierung und rassistische Ausgrenzung immer Hand in Hand gehen, die Riots aber in der medialen Darstellung und in der politischen Bewertung oft rassistisch und kulturalisierend, als Ausdruck einer nicht-weißen Gewalt gegen die Ordnung interpretiert werden. Dabei ist der Kampf gegen Rassismus generell elementarer Bestandteil der derzeitigen Aufstände, wie auch die Beteiligung indigener Gruppen in südamerikanischen Ländern zeigen oder die Krawalle migrantischer Jugendlicher in hiesigen Großstädten, die von den Akteuren als Gegenwehr zu einer rassistisch wahrgenommenen Polizeiwillkür rationalisiert werden.

Dass die Polizei stets direkter Gegner der Aufständischen ist, hat laut Clover damit zu tun, dass der Staat heute in Form von Sicherheitsbeamten immer in unmittelbarer Nähe ist, während die ausgelagerte Ökonomie weit weg ist - im Gegensatz zur frühen Neuzeit, als auf dem Markt als dem Austauschplatz ökonomischer Waren gekämpft wurde, der Staat aber kaum präsent und die frühneuzeitliche »Policey« erst noch im Entstehen war. Deshalb ist die Diskussion um (nicht nur rassistische) Polizeigewalt prägend für die Aufstände in vielen Ländern. Eine rein sozialökonomische Sicht auf die Aufstände kann das Phänomen kaum fassen. Das zeigen auch die militant geführten feministischen Kämpfe wie unter anderem in Mexiko, unlängst in Großbritannien oder in Chile.

Die globalen Aufstände spiegeln eben auch die Komplexität intersektionaler Kämpfe wider, was gerade angesichts eines autoritären, globalen Rechtsrucks eine immer wichtigere Rolle spielt. In der zunehmenden ökonomischen und sozialen Krise infolge der Pandemie dürfte die Frage nach ökonomischer Teilhabe beziehungsweise der Kampf gegen soziale Ausschlüsse als verbindendes Element sicher im Vordergrund bleiben. Dies zeigt auch das Beispiel Chile, wo ein neoliberales Musterland einen der weitestgehenden Aufstände der vergangenen Jahre erlebte, der in ein Verfassungsreferendum führte. Aber auch in Kolumbien wird jetzt um den Umgang mit den Kosten der Corona-Pandemie gestritten, da die dortige Regierung versuchte, per Steuerreform vor allem die unteren Einkommensschichten zur Kasse zu bitten.

Ob der Kampf um die Kosten der Pandemie die Ausrichtung der nächsten Aufstände ähnlich prägen wird wie das die Finanzkrise vor zehn Jahren tat, bleibt abzuwarten. Auch die Frage, ob die kommenden Aufstände ein neues politisches Subjekt hervorbringen wie in Joshua Clovers Vorstellung eines aufständischen Surplus-Proletariats oder ob hier nicht vielmehr eine Vielzahl verschiedener, miteinander verwobener emanzipatorischer Kämpfe eine Rolle spielen werden, muss noch beantwortet werden. Der große globale Aufstand in all seinen vielfältigen Facetten gegen das spätkapitalistische Krisenregime hat jedenfalls längst begonnen.

Joshua Clover: Riot. Strike. Riot. Die neue Ära der Aufstände. Galerie der abseitigen Künste, 250 S., br., 18 €.

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