Bürgerlichkeit, du Chamäleon

Zum Schillern zwischen Lifestyle, Parteiprogramm und Klasse

  • Jörg Sundermeier
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach jeder Wahl steht sie im Raum: die Bürgerlichkeit. Die CDU reklamiert die Bürgerlichkeit für sich, sie ist gewissermaßen ihre Verkörperung. Die FDP will sie auch verkörpern, dabei allerdings auch dynamisch sein. Die SPD will ebenfalls bürgerlich sein, ebenso die Grünen. Die AfD reklamiert die Bürgerlichkeit eh für sich, auch wenn sie braunbürgerlich ist. Nur die Linkspartei schert aus, sie will revolutionär sein (ein bisschen), dann aber doch wieder alle Bürgerinnen und Bürger vertreten.

Überhaupt, was ist diese Bürgerlichkeit eigentlich, sind denn nicht alle Passbesitzer Bürgerinnen und Bürger ihres Staates? Also auch Sie - und auch ich? Und bin ich nicht, wenn ich ein Bürger bin, auch bürgerlich? Und als guter Mensch vielleicht gar gutbürgerlich?

Ich bin es tatsächlich. In betreibe mit meiner Frau Kristine Listau ein kleines Unternehmen, wir haben eine Wohnung mit Balkon und morgens, mittags und abends gehe ich mit unserem Hund raus. Bin ich also nicht sogar spießbürgerlich? Auch was das Ständische angeht, bin ich vollbürgerlich - weder bin ich Teil des Adels noch des Klerus, gehöre als Unternehmer wohl kaum der Arbeiterklasse an, und obschon mein Konto manchmal was anderes sagt, kann ich mich schwer als Mitglied des Lumpenproletariats definieren. All diese Gesellschaftsteile sind heute allerdings nicht mehr so scharf voneinander geschieden, der Klerus kämpft mit den Sünden der Kirche und verlangt keine Ablassgelder mehr, der Adel verzweifelt, weil der Denkmalschutz ihn zwingt, seine Schlösser nun auch auf eigene Kosten instand zu halten, die Arbeiterklasse sitzt in der Pandemie im Homeoffice und das Lumpenproletariat radelt gut gekleidet für viel zu wenig Geld für Lieferdienste durch die Straßen. Und vom Bürger zum Lumpenproleten ist’s oft nur ein Sprung, eine Mieterhöhung reicht.

Daher die so oft beschworene Angst des Bürgertums um seine Besitzstände - wenn der Bürger nicht ganz oben ist, kann er schnell ganz unten sein. Andererseits sitzt die Arbeiterin im Garten vor ihrem Eigenheim im selben Viertel wie der bürgerliche Bürger, oder die beiden treffen sich im Biergarten. Die Stände sind in alle Richtungen durchlässig geworden, selbst der Klerus ist offener. Wenn aber all diese Definitionen nicht mehr zutreffen, warum wird das Bürgerliche dann so exzessiv betont?

Nun, um all diese Dinge geht es jenen gar nicht, die nun das Bürgerliche für sich reklamieren. Es geht darum, es anderen absprechen. Und, wenn es gut läuft, damit auch bürgerliche Rechte. Denn die, die sich bürgerlich nennen, sind in ihrer Selbstwahrnehmung nicht extrem. Und die Extreme, so besagt es die unsägliche Extremismustheorie, die eher eine Ideologie ist, umklammern von rechts und links und vom Islam her die »bürgerliche Mitte«, in der sich die Bürgerlichen pudelwohl fühlen wollen, aber so viel Angst haben müssen - dass der Islam ihnen »die Ordnung« wegnimmt, die Rechten »die Themen« und die Linken »die Normalität«. Und nichts fürchtet der Bürger so sehr wie, dass nichts bleibt, wie es ist. Und dafür, dass es bleibt, wie’s ist, wird der bürgerliche Bürger gern extrem: In zwei Weltkriegen hat er bereits seine »Werte« verteidigt. Mit Angriffskriegen.

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