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Friede den Hütten
An Konzepten, wie allen Menschen ein Zuhause ermöglicht werden könnte, besteht kein Mangel. Nur bei der Umsetzung hakt es
Wer hat in Berlin das Sagen? Diese Frage stellt sich am Freitagmittag nicht nur der aufgebrachte Teilnehmer einer Kundgebung vor dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg an der Frankfurter Allee. Auf ihren selbst gemalten Schildern forderten etwa 60 Demonstrant*innen: »Keine Räumung am Containerbahnhof!« Oder schlicht: »Freestyle Life!« Eines verkündete: »Wir schaffen Wohnraum«.
Anlass war die erneute Aufforderung an die bis zu 30 Wohnungslosen am ehemaligen Güterbahnhof hinter dem Ring-Center, ihren Platz bis zum kommenden Montag zu räumen. Eigentlich wollte die Eigentümerin, die Netz AG der Deutschen Bahn, das Friedrichshain-Kreuzberger Gelände direkt an der Grenze zu Lichtenberg bereits Mitte April räumen lassen. Stattdessen gab es damals nur eine umstrittene »Aufräumaktion«.
Jetzt versucht es die Netz AG erneut. »Wir werden nunmehr ab Montag, 14. Juni 2021, ab 8 Uhr räumen, Hausverbote aussprechen und unberechtigte Personen des Grundstücks verweisen«, kündigte die hundertprozentige Tochter der Deutschen Bahn am Mittwoch vor einer Woche in einem Brief an die »sehr geehrten Damen und Herren« an. Dies sei mit dem Bezirk, den Behörden und den beteiligten Sozialträgern so abgestimmt.
Die Kundgebung am Freitag fand auch deshalb vor dem Bezirksamt statt, weil dort »die Menschen sitzen, die über diese Obdachlosenplatte entscheiden«, wie es im Aufruf heißt. Das Bezirksamt soll angeblich versichert haben, die Räumung vorerst auszusetzen. Die Demonstrierenden fordern indes eine schriftliche Bestätigung. Denn nach der Räumung des großen Obdachlosencamps an der Rummelsburger Bucht im Februar dieses Jahres sitzt das Misstrauen tief. »Ich war an der Rummelsburger Bucht nicht obdachlos«, berichtet die Studentin Jess von der seinerzeitigen Räumung: »Der Staat hat mich obdachlos gemacht.«
Die Demonstrant*innen wollen genau das für die Bewohner*innen der Friedrichshainer »Obdachlosenplatte« verhindern. Die Unterstützer*innengruppe um das Kollektiv DieselA und die Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen fordert, dass die Räumung ausgesetzt wird und die Wohnungslosen am Containerbahnhof dauerhaft bleiben dürfen, oder »eine gute alternative Platte« zur Verfügung gestellt bekommen. Zudem will die Gruppe erreichen, dass »Obdachlosenplatten« wie auch Wagenplätze und Hausprojekte nicht länger illegalisiert werden.
Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg hat lediglich fünf Personen einen Verbleib vor Ort zugesagt. Der junge Erwin, der seit knapp vier Monaten auf dem ehemaligen Gütergelände lebt, gehört nicht dazu. Es sei eine »schöne Gemeinschaft«, das Gefühl der drohenden Räumung sei aber »scheiße«. Was der Bezirk seiner Ansicht nach machen sollte? »Wir wünschen uns einen Platz, wo wir sicher sein können, nicht gleich wieder weggeschickt zu werden«, sagt Erwin.
Aus dem Haus von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) heißt es, dass auf dem Areal keine Räumung, sondern ein »Umzug« stattfinden werde. »Der Güterbahnhof soll zu einem der zukünftigen Safe Places in der Stadt werden«, sagt Behördensprecher Stefan Strauß. Ein Angebot für obdachlose Menschen, die sich kein Leben in einer festen Unterkunft vorstellen können, sich aber trotzdem sicher fühlen sollen, ohne dabei Angst vor Vertreibung haben zu müssen, so Strauß zu »nd«. Die Berliner Stadtmission wird für den Platz zuständig sein.
Womöglich hat man aus der Empörung rund um die Räumung des Camps an der Rummelsburger Bucht gelernt. Auch wenn es hier vordergründig darum ging, Menschen wie die Studentin Jess vor der damaligen Kältewelle mit Temperaturen von bis zu minus 20 Grad zu schützen, hatte man Dutzende davon abgehalten, wenigstens ihre Habseligkeiten abzuholen. Hatte der Bezirk Lichtenberg hierfür heftige Kritik einstecken müssen, stellt auch er nun im Rahmen des Safe-Places-Konzepts eine bezirkseigene Fläche für obdachlose Menschen zur Verfügung. Unweit des Güterbahnhofs, an der Frankfurter Allee, Ecke Gürtelstraße, soll ebenfalls ein sicherer Aufenthaltsort entstehen - »offen, nicht abgeschottet«, damit es einen guten Kontakt mit den Anwohner*innen geben kann, wie Stefan Strauß betont.
Im Nachgang zur fünften Strategiekonferenz Wohnungslosigkeit, die sich über anderthalb Wochen erstreckte und an deren Online-Diskussionen bis zu 200 Menschen teilnahmen, hat die Umsetzung von Safe Places bereits begonnen. Kritisch nachgefragt wird trotzdem: Droht dann Obdachlosen die Vertreibung von anderen Flächen in der Hauptstadt? Und was, wenn die beschränkte Anzahl an Plätzen auf den Safe-Places-Flächen nicht ausreicht? Generell im Raum steht zudem die Frage, ob der schon lange geforderte Paradigmenwechsel in der Berliner Obdachlosenpolitik tatsächlich gelingt. Was wiederum auch von dem Punkt abhängt, wie das Zusammenwirken beteiligter Akteure - Senat, Bezirke, Sozialträger, Betroffene, politische Parteien - zukünftig aussieht. Sozialsenatorin Breitenbach will einen »Pakt der Stadtgesellschaft« festschreiben, in dem ein klarer politischer Wille für die Beendigung der Obdachlosigkeit in der Stadt auch die notwendigen Veränderungen legitimiert.
»Wir müssen an den Punkt eines gesellschaftlichen Konsenses kommen«, fordert Elke Breitenbach auf der Abschlussveranstaltung der Strategiekonferenz. Dann könne man um Detailfragen streiten. Wie viele Konferenzteilnehmende kritisiert auch die Linke-Politikerin, dass es in den zwölf Bezirken der Hauptstadt keinen einheitlichen Umgang mit Wohnungs- und Obdachlosigkeit gibt. »Berliner Krankheit« nennt es die Senatorin: »Jeder Bezirk macht, wie er denkt. Mit dem Ergebnis, dass man Daten nicht mehr vergleichen kann.« Zuletzt hatte dies dazu geführt, dass Breitenbach über die Sozialverwaltung eine Gesamtstädtische Steuerung zur Unterbringung eingeführt und damit die Koordination der zum Teil »wildwüchsigen« bezirklichen Unterbringung an sich gezogen hat.
Ganz oben auf der Agenda zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit steht aber nach wie vor das Prinzip des »Housing First«. 77 Wohnungen wurden dafür in den vergangenen zwei Jahren bereitgestellt. Bedingungslos sollen Menschen so wohnen können, sagt Stefan Strauß, »ohne dass erst monatelang ihre Wohnfähigkeit geprüft wird«. Dafür orientiert man sich an dem als vorbildlich geltenden finnischen Modell. In Finnland hat Housing First dafür gesorgt, dass die Zahl der obdachlosen Menschen von fast 18 000 im Jahr 1987 auf mittlerweile etwa 3000 gesunken ist. Das Ziel, Wohnungslosigkeit bis 2027 in Finnland ganz zu beenden, ist damit alles andere als unrealistisch. Vor allem für Menschen mit sehr schwerwiegenden sozialen Problemen sei es gelungen, über Housing First Wohnmöglichkeiten zu finden, berichtet Juha Kaakinen von der Y-Foundation, einer Stiftung, die in Finnland in den letzten Jahrzehnten über 6000 Wohnungen angekauft hat, um sie Obdachlosen zur Verfügung zu stellen. Viele Menschen hätten Angst vor Isolation und Einsamkeit in normalen Mietwohnungen, sie wollen in Gemeinschaften wohnen, erklärt Kaakinen. Man habe zunächst gedacht, bestehende Unterkünfte umbauen zu können, sei aber auch verstärkt dazu übergegangen, neue zu bauen.
Auch Elke Breitenbach betont immer wieder die Sinnhaftigkeit einer Unterbringung in permanent betreuten Mietwohnungen. Ob es dafür einer Priorisierung bedarf, sei noch nicht ausgemacht. Entscheidender sei die Frage des zur Verfügung stehenden Wohnraums. Denn der ist mehr als knapp in Berlin - und am Ende der Konkurrenzkette stehen die obdach- und wohnungslosen Menschen. Aus diesem Grund will die Senatorin durchsetzen, dass jährlich 3000 Wohnungen aus dem landeseigenen Bestand aus der regulären Vermietung herausgelöst und wohnungslosen Menschen zur Verfügung gestellt werden. Derzeit geht man von bis zu 50 000 Wohnungslosen in Berlin aus.
Der angestrebte Paradigmenwechsel »rechnet sich auf jeden Fall«, und das nicht nur aus humanitären Gründen, so die Senatorin. Ob es um die 70 Euro am Tag für die Bereitstellung einer Notunterkunft eines Obdachlosen oder die Unterbringung von Wohnungslosen nach dem allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz geht: »Die kostet für einen einzelnen Menschen 640 Euro monatlich, da ist man doch an einem Punkt, wo man auch Miete zahlen kann«, erklärt Breitenbach. Allein ein dreistelliger Millionenbetrag sei 2020 in die Aufgabe geflossen, wohnungs- und obdachlose Menschen unter pandemischen Bedingungen unterzubringen.
Ergo: Die »Verwaltung des Elends« ist kostenaufwendiger, als es direkt abzuschaffen. Breitenbach schlägt ein Landesprogramm vor, über das die Träger von Gemeinschaftsunterkünften eine Förderung erhalten, um diese umbauen zu können, wie es dem Bedarf entspricht. Auch die ersten Erbpacht-Grundstücke für Neubauten sind nun an Sozialträger gegangen. Die eigentliche Aufgabe dürfte jedoch in der kommenden Legislatur zu bewältigen sein.
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