Den Grünen mangelt es an Courage

Nach dem Parteitag ist das Wahlprogramm der Partei zwar konkreter, aber auch mutloser, meint Katja Kipping

  • Katja Kipping
  • Lesedauer: 4 Min.

Ob sich das die Parteitagsregie gut überlegt hatte? Als am Wochenende das Sozialpolitik-Kapitel im Wahlprogramm der Grünen behandelt wurde, gab es in den Abstimmungspausen Unterhaltsprogramm. Während es also um harte Themen wie die Kindergrundsicherung und die Pläne für eine Reform von Hartz IV ging, plauderten und werkelten die Moderator*innen in einer Blütenlandschaft locker über den Bau eines Bienenhotels für den eigenen Garten.

Beim Zuschauen, erzeugte das kongnitive Dissonanzen. Beim Kleinrechnen der Regelbedarfe durch bisher alle Bundesregierungen fallen viele Posten, die der sozialen Teilhabe dienen, dem Rotstift zum Opfer: Zimmerpflanzen, das Haustier, einmal im Monat mit Freunden ein Glas Wein trinken, sind genauso aus dem Regelbedarf gestrichen wie ein paar Cent, welche die Haushalte, von deren »Warenkorb« der Regelbedarf abgeleitet wird, im Durchschnitt für Garten- oder Campingartikel ausgeben.

Während man hier vielleicht eine gewisse Instinktlosigkeit wittern könnte, kann man den Grünen eines seit dem Wochenende nicht mehr vorwerfen: Zahlenlosigkeit. Genau die hatte ich nach Veröffentlichung des Programmentwurfs in einem Beitrag für das Magazin *prager frühling kritisiert. Denn von der wortreichen Beschwörung der Würde von Armutsbetroffenen können die sich im Zweifel nämlich gar nichts kaufen.

Deshalb war das Fehlen jeder Aussage über die von den Grünen angestrebte Grundsicherungshöhe und die Aussage, man wolle die »Regelsätze schrittweise anheben, sodass sie das soziokulturelle Existenzminimum verlässlich sicherstellen«, so beunruhigend. Denn im Umkehrschluss hieße das: Bis man diese Schritte irgendwann gegangen sein wird, nähme man die systematische Unterschreitung des soziokulturellen Existenzminimums und die damit einhergehende Ausgrenzung einfach weiter hin.

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Der Satz wurde gestrichen, beschlossen wurde inhaltlich aber genau dies. Alle Anträge, die auf eine Erhöhung des Regelbedarfs für Alleinstehende auf ca. 600 Euro und damit zumindest auf das Niveau, welches die Grünen-Bundestagsfraktion als Untergrenze für die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums berechnet hat, wurden abgelehnt. Die Linke hat ausgerechnet, dass, wenn alle willkürlichen Abschläge der Bundesregierung weggelassen würden, der Regelbedarf bei mindestens 658 Euro zuzüglich Haushaltsstrom liegen müsste.

Beschlossen haben die Delegierten des Grünen-Parteitags nun eine Erhöhung des Regelbedarfs auf 496 Euro. Es gibt keinen plausiblen Grund für diesen Betrag. Verfahren wurde nach dem Motto: Es sind halt ein paar Euro mehr, und die Steigerung um 50 Euro gegenüber dem Status quo ist ein runder Betrag. Klar, für Menschen in Armut, die jeden Groschen zweimal umdrehen müssen, ist jeder Euro wichtig. Nur ist der Unterschied der zwischen einem Almosen und einem sozialen Grundrecht auf Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums. Zur Würde des Menschen gehört, dass seine Existenzgrundlage nicht zur freihändigen Verfügungsmasse im Wahlkampf gemacht und von Politiker*innen über den Daumen gepeilt werden darf.

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Genau das haben die Regisseure des Grünen-Bundesparteitags allerdings getan und damit gezeigt, was man von Robert Habecks Aussage, es dürfe nicht sein, dass Menschen, die arbeitslos werden, mit der Arbeit auch noch ihre Würde verlieren, wie es mit dem derzeitigen System und Hartz IV geschehe, erwarten kann. Sie gilt noch nicht einmal bis zum Beginn von Koalitionsverhandlungen. Die Anträge der Basis zeigen aber auch, dass sich viele Grüne einen anderen, einen sozialen und somit linken Kurs wünschen. Man kann der Parteispitze nur wünschen, dass sie in den kommenden Monaten auf diese Stimmen hört.

Die Autorin ist Bundestagsabgeordnete der Linken und war von 2012 bis zum Februar dieses Jahres Ko-Vorsitzende der Linkspartei.

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