- Politik
- Hausbesetzung in Leipzig
Zeichen aus der Tiefe
Im Leipziger Osten besetzten junge Menschen erneut ein Haus, um gegen hohe Mieten und Leerstand zu protestieren
Aus einem Erker des ersten Stockwerks schauen zwei pink vermummte Personen, die einen schwarzen Eimer an einem Seil herunterlassen. Nachdem über Twitter die Meldung kam, dass eine Taschenlampe benötigt wird, dauerte es keine fünf Minuten, bis diese organisiert war. Lotte wirft zu der Taschenlampe noch einige Leckereien in den Eimer und gibt ein Zeichen, woraufhin sich die Ladung wieder auf den Weg nach oben macht und durch das Fenster im Inneren des Hauses verschwindet. Sie selbst setzt sich zurück zu ihren Freund*innen auf die Straße und trinkt einen Schluck von ihrer Mate. Sie ist etwas angespannt, freut sich aber darüber, dass das seit 20 Jahren unbewohnte Haus nun mit Leben gefüllt wird. »Es ist nicht schlimm, ein jahrelang leer stehendes Haus zum Wohnen haben zu wollen. Ich sehe nichts Verwerfliches daran«, betont Lotte. Die Studentin trägt eine FFP2-Maske, die außer den Augen wenig von ihrem Gesicht erkennen lässt.
Freitagmittag ging die Gruppe Leipzig besetzen in die Tiefe Straße 3, ein denkmalgeschütztes Haus im Leipziger Stadtteil Anger-Crottendorf. Das Bündnis kritisiert den Leerstand, der trotz Wohnungsmangels in Leipzig durch Immobilienfirmen verursacht wird. Das nun besetzte Haus gehört dem Nürnberger Unternehmen Immovaria, das sich auf die aufwendige Sanierung von Altbauten spezialisiert hat und nach eigenen Angaben 21 000 Quadratmeter Leerstand besitzt. »Allerdings sind die Preise, zu denen vermietet wird, unglaublich hoch, weil so viel Schnickschnack verbaut wird, wie zum Beispiel Flachbildfernseher im Badezimmer«, kritisiert Lotte von Leipzig besetzen. Diese Art der Renovierung hat die Immovaria bereits zwei Häuser weiter durchgeführt - die Tiefe Straße 1 verfügt neben der Möglichkeit eines multimedialen Badeerlebnisses auch über eine Fußbodenheizung. Luxussanierungsprojekte lassen sich im Stadtteil Anger-Crottendorf einige finden. Ganz in der Nähe liegt die ehemalige Karl-Krause-Papierfabrik, die nach jahrzehntelangem Leerstand 2014 von der GRK Immowert GmbH aufgekauft wurde. Vor Kurzem hat die Sanierung begonnen. Auf der Website des Bauprojektes wirbt das Immobilienunternehmen für seine Wohnungen nicht nur mit einem Fitnessraum; auch ein scheinbar vielfältiges Angebot an Wohnkonstellationen soll das Projekt attraktiv machen: Die Wohnungsgrößen seinen so strukturiert, dass sich »Paare ebenso angesprochen fühlen wie Familien mit Kindern oder Singles«.
Stark steigende Mieten
Diese vereinzelte oder an der Kleinfamilie orientierte Art des Wohnens ist nicht das, was sich Lotte und ihre Freund*innen vorstellen. Sie alle wohnen bereits heute in WGs - nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch, weil sie gemeinschaftlich leben wollen. Die Nutzungspläne für die frisch besetzte Tiefe Straße 3 stehen solchen Wohnkonzepten wie von Immowert konträr gegenüber: Sollte das besetzte Haus gehalten werden, haben die Besetzer*innen bereits klare Vorstellungen. Neben Wohnraum soll vor allem das Erdgeschoss für eine kollektive Nutzung zur Verfügung stehen. Öffentliche Toiletten, ein Nachbarschaftscafé und Räumlichkeiten für politischen Aktivismus seien dabei vorstellbar. »Das alles soll gemeinschaftlich passieren - und nicht jeder für sich alleine«, betont Lotte. Darum geht es den Besetzer*innen nämlich: kein Privateigentum, sondern gemeinschaftliche Projekte. Aus diesem Grund hat die Gruppe zu einer Versammlung mit den Nachbar*innen am Samstagnachmittag aufgerufen, bei der alle Interessierten angehalten sind, sich an der Gestaltung des Hauses zu beteiligen und eigene Ideen zu diskutieren. Kein Privateigentum bedeutet auch keine Profite, die mit dem Haus gemacht werden können.
Profite sind das, was die Immobilienunternehmen antreibt. Sie kaufen günstigen Wohnraum auf und treiben die Mietpreise durch umfassende Sanierungen in die Höhe. In einer stark wachsenden Stadt wie Leipzig treibt das gerade Blüten. Mehr als 600 000 Menschen leben mittlerweile in der Stadt. Noch ist Anger-Crottendorf ein Viertel, in dem viele Menschen mit geringem Einkommen leben. Aber die Mieten steigen überall im Stadtgebiet. In den Jahren 2013 bis 2020 nahm der durchschnittliche Mietpreis in Leipzig um 13,5 Prozent zu, die Angebotsmieten (also von aktuellen Angeboten auf dem Wohnungsmarkt) sogar um 30,6 Prozent.
Vor dem besetzten Haus haben sich bereits viele Menschen versammelt. Juliane Nagel, Leipziger Stadträtin der Linken, hat eine Kundgebung angemeldet. »Ich bin der Meinung, dass die Besetzung von lange leer stehenden Häusern bei Vorlage eines Nutzungskonzeptes entkriminalisiert gehört. Dass Menschen für das Wohl der Gemeinschaft aktiv werden, ist zu honorieren, nicht zu bestrafen!«, schreibt sie später in einer Mitteilung. Auch Nachbar*innen sind da, spielen Musik und unterhalten sich auf der Straße. Jemand hat zwei Kästen Bier mitgebracht. Kurz darauf trifft die Küche für alle ein. Gegen eine kleine Spende holt sich Lotte hier einen Wrap. Eine Punkband spielt auf einem kaputten Schlagzeug Lieder über den Kiez. »In diesen Stunden lebt der Austausch wieder auf, der bereits letzten Sommer durch die Ludwigstraße 71 entstanden ist«, sagt Lotte.
Vor ungefähr einem Jahr hatte die Gruppe bereits ein Haus im Stadtviertel Neustadt-Neuschönefeld, auch im Leipziger Osten, besetzt. Als das Haus nach zwölf Tagen von der Polizei geräumt wurde, kam es drei Tage lang zu Protesten in der Stadt, die gezeigt haben, dass sich viele Menschen mit der Besetzung solidarisieren und wütend sind. Für Lotte war dieser kollektive Moment ein bestärkendes Gefühl. Allerdings kam es auch vermehrt zu Repression und Festnahmen gegen die mehrheitlich migrantische Bevölkerung des Viertels. Lotte kritisiert dies: »Die Proteste haben die Polizeipräsenz in dem Viertel erhöht. Menschen, die sowieso schon regelmäßig von Polizeikontrollen betroffen sind, werden noch zusätzlich schikaniert.« Dies war auch einer der Gründe, weshalb das Bündnis nun im benachbarten Stadtteil Anger-Crottendorf besetzt.
Der Protest gegen die Gentrifizierung in der wachsenden Stadt hat zuletzt zugenommen. Neben einigen Hausbesetzungen kam es in den vergangenen Jahren zu mehreren Zusammenschlüssen in den Vierteln, aber auch zu Farbattacken auf die Fassaden von Neubauten. Und im Oktober 2019 verübten Linksradikale einen Brandanschlag auf ein Bauprojekt der CG-Gruppe im Leipziger Osten. Drei Baukräne brannten aus, der Schaden betrug einige Millionen Euro.
Ein frühes Ende
Sieben Stunden sind auf der Tiefen Straße vergangen, als die Polizei das Beisammensein im Viertel beendet. Mithilfe der Feuerwehr bricht sie die Hintertür des Hauses auf, um es zu räumen. Bevor die Polizei im zweiten Stock angekommen ist, retten die Besetzer*innen zumindest ihr Megafon. Diesmal funktioniert der Eimer in die entgegengesetzte Richtung und lässt zügig, aber sicher das Sprachrohr der Besetzer*innen herunter. Unten angekommen, wird es von den Unterstützer*innen in Sicherheit gebracht. Währenddessen versammeln sich die bis zu 300 Menschen auf der hinter dem Haus liegenden Straße, wo bereits mehrere Polizeiwagen darauf warten, mögliche Gefangene abzutransportieren. Eine Anwohnerin stellt große Lautsprecher an die Fenster ihres Zimmers im ersten Stock, einige Demonstrierende tanzen und singen zur Musik.
Als die Polizei um 23 Uhr zwei Besetzer in die Gefangenensammelstelle wegbringen will, kippt die Stimmung. Einsatzkräfte schubsen und treten brutal auf eine kleine Gruppe ein, die den Transport mit einer Sitzblockade zu verhindern versucht. »Fahr einfach los«, soll ein Polizist seinen Kolleg*innen zugerufen haben, als sich zwei Demonstrierende vor das Fahrzeug legen, berichten mehrere Anwesende. »Die Bullen waren sehr aggressiv«, pflichten andere bei. Einige Demonstrierende ziehen die beiden Personen im letzten Moment vor dem anfahrenden Polizeiwagen weg. Zwei Besetzer werden in die Gefangenensammelstelle transportiert. Nach zwei Stunden sind sie wieder frei - das Haus hingegen ist verloren. »Stattdessen bleibt bei uns Trauer und Wut«, sagt Lotte.
Der Tag X - also der Tag der Räumung - kam früher, als von der Gruppe erwartet. Die eigentlich für den darauffolgenden Tag angesetzte Versammlung mit den Anwohner*innen im nahe liegenden Lene-Voigt-Park ist abgesagt worden. Die Sonne hätte dabei geschienen. So sitzt Lotte aber allein im Park. Sie ist geknickt, lässt sich aber von solchen Rückschlägen, die im täglichen politischen Kampf Alltag sind, nicht unterkriegen. »Wir machen weiter, weil es uns wichtig ist, die Gentrifizierung nicht unbeantwortet zu lassen«, erklärt sie wie selbstverständlich. Viel Zeit für Kummer ist sowieso nicht: Am Samstagabend steht schließlich eine Demonstration wegen der Räumung an.
Um 22 Uhr versammeln sich rund 200 Menschen im Viertel - melden aber keine Demonstration an. Die Polizei ist mit einem Großaufgebot inklusive Wasserwerfern und einem Räumpanzer im Viertel präsent und hindert die Gruppe daran, loszulaufen. Bis in die Nacht hinein kreist ein Helikopter über dem Leipziger Osten. Dennoch kommt es im Verlaufe des Abends zu mehreren Aktionen: Eine spontane Demo im Stadtteil Connewitz läuft ohne Polizeischutz, außerdem brennen Mülltonnen; und eine Sparkasse unweit der Tiefen Straße 3 wird angegriffen.
Lotte ist über das große Polizeiaufgebot wenig überrascht. Repressionen gegen die linke Szene seien üblich. Was ihr Hoffnung und Mut macht, sei aber die Solidarität, die der Gruppe entgegengebracht wird: »Sie gibt einem das Gefühl, dass man doch etwas bewegen kann, dass doch noch nicht alles verloren ist.«
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