Der Lehrer sieht alles

In China wird die Digitalisierung der Schule auf die Spitze getrieben

  • Fabian Kretschmer, Guiyang
  • Lesedauer: 6 Min.

Sportlehrer Wang Kun will Gerechtigkeit und träumt bereits von der vollkommen fairen Schulklausur. »Wir wollen den menschlichen Fehler minimieren. Keiner soll hier eine gute Note bekommen, nur weil er enge Beziehungen zum Prüfer hat«, sagt er mit ernster Mine und kerzengrader Körperhaltung. Er wirkt streng. Seine Devise lautet: Nur Leistung zählt – und sonst nichts.

Der Pädagoge steht in der riesigen Sporthalle der Qingzhen-Mittelschule, hinter ihm haben sich bereits Dutzende Teenager in Trainingskleidung auf dem geputzten Linoleumboden aufgereiht. Sie werden heute in ihrer Abschlussprüfung beim Seilspringen auf Zeit getestet. Bewertet werden sollen die Schüler jedoch nicht vom fehlerhaften menschlichen Auge, sondern mittels objektiver Technik: Eine Kamera, ausgestattet mit Künstlicher Intelligenz, zählt jede Rotation des Sprungseils. Später werden Computerchips, eingenäht in die Shirts der Schüler, sicherstellen, dass niemand beim Ausdauerlauf auf der 400-Meter-Bahn abkürzt. Schummeln wird damit unmöglich gemacht: Statt auf Vertrauen setzen die Lehrer der Qingzhen-Schule auf digitale Kontrolle.

Entwicklung des chinesischen Schulsystems

Die allgemeine Schulpflicht gibt es in China erst seit 1986, als ein entsprechendes Gesetz verabschiedet wurde, das eine Schulzeit von mindestens neun Jahren vorsieht. Diese ist aufgeteilt in sechs Jahre Grundschule und drei Jahre weiterführende Sekundarstufe auf einer Mittelschule. Durch die Schulpflicht ist der Alphabetisierungsgrad in China deutlich gestiegen. Zuvor konnten vor allem viele Frauen nicht lesen und schreiben, fast jede zweite galt als Analphabetin.

Der Besuch einer Grundschule ist in der Volksrepublik zwar gratis, doch müssen Eltern die Schulbücher selbst bezahlen, und es werden Spenden erwartet. An den meisten Schulen in den Städten ist das Tragen einer Schuluniform Pflicht. Auf dem Land ist das oft nicht der Fall, viele Schüler tragen dort aber mindestens das rote Halstuch.

Die Schule in China ist streng und leistungsorientiert. Nur die Talentierten werden sich durchsetzen und eine Eliteuniversität besuchen oder im Sport gefördert. Entsprechend hoch ist der Druck.

In den meisten Schulen beginnt der Montagmorgen mit einem Appell vor dem Schulhaus. Dann wird die chinesische Fahne gehisst, und die Schüler singen dazu die Nationalhymne. Die neunjährige Regelschulzeit endet mit einer Prüfung (Zhongkao).

Der Besuch einer anschließenden dreijährigen Oberstufe ist für die Familien meistens kostenpflichtig, vor allem wenn die Schüler sich für eine Privatschule entscheiden. Abgeschlossen wird die Oberstufe mit einem Examen (Gao Kao), das mit dem deutschen Abitur vergleichbar ist. Diese Prüfung nach der zwölfjährigen Schulzeit hat maßgeblichen Einfluss darauf, an welcher Hochschule die Absolventen studieren dürfen. Das Gao Kao dauert in China zwei Tage, dann herrscht im Land Ausnahmezustand. nd

Es sind lediglich technische Spielereien, die die Lokalregierung beim Ortsbesuch in der Guiyang, rund 2000 Kilometer von Peking entfernt, den Journalisten präsentiert. Mit digitalen Hilfsmitteln soll hier im Mekka für Big Data die körperliche Fitness der Schüler verbessert werden: Die Software liefert etwa mittels der analysierten Daten aus dem Sportunterricht individuell angepasste Ernährungspläne und Übungen für zu Hause. Damit aber nicht genug: Von der ersten Klasse bis zum Abitur werden sämtliche Gesundheitsdaten ans Ministerium weitergeleitet. Dabei bietet der Sportunterricht nur ein Vorgeschmack auf die umfassende Vision, die Chinas Regierung für seine Jugend hegt.

»Unsere Technologie kann natürlich auch für andere Fächer angewendet werden«, sagt Zhang Youyou, der für das staatsnahe Unternehmen mit dem sperrigen Namen Guizhou Jingshi City Investment Smart Education arbeitet. Sein Unternehmen entwickelt mit Hochdruck eine elektronisch überwachte Schule: »Im Chinesischunterricht können wir beispielsweise bei Gruppendiskussionen die Antworten der Schüler filmen – und genau messen, wie konzentriert sie sind.« Datenschutz spielt dabei keine Rolle. Eine Zustimmung der Eltern brauche man nicht, sagt Zhang Joujou, denn die Schule sei in China öffentlicher Raum.

Im zehnten Stock eines gläsernen Büroturms in der Provinzhauptstadt Guiyang tüfteln Zhang und seine Kollegen an der digitalen Revolution fürs Klassenzimmer: Eine Mitarbeiterin im eleganten Businesslook sagt, man möchte mithilfe der Technik den neuesten Wissensstand der Neurowissenschaft mit digitaler Technologie verbinden, das Bildungssystem effektiver gestalten und die Kosten für die Gesellschaft drosseln. Schattenseiten dieser Entwicklung erwähnt sie nicht.

Nach wenigen Minuten wird allerdings ersichtlich, auf welch schmalem Grat Utopie und Dystopie beieinanderliegen: So experimentieren die Guizhou-Informatiker beispielsweise mit einer Art »Smart Desk«: Eine Lampe mit integrierter Kamera leuchtet auf dem Schreibtisch des Schülers, der dort etwa schreiben lernt oder Mathematikaufgaben löst. Das Kamerabild wird an die Applikation eines Lehrers übertragen, der Hunderte Kilometer entfernt Unterricht in Echtzeit halten kann. Mittels technischer Innovation soll der Distanzunterricht weiterentwickelt werden.

Für viele Experten ist dies ein Beispiel, wie digitale Lösungen die wachsende Ungleichheit im Bildungssystem Chinas überbrücken können. »Wenn man sich anschaut, wo die guten Lehrer sind, dann ist das in den großen Metropolen. 85 Prozent aller Schüler sind jedoch in den ländlichen Gebieten«, sagt Felix Liu, der für die Schweizer Großbank UBS zum Bildungssektor in China forscht: »Dieses strukturelle Ungleichgewicht kann mit Online-Unterricht gelöst werden.«

Aber die Technik soll nicht nur zur Kommunikation eingesetzt werden. Denn gleichzeitig arbeiten die Programmierer in Guiyang auch an der totalen Überwachung des chinesischen Klassenzimmers: »Smarte« Kameras sollen sämtliche Unterrichtseinheiten aufzeichnen, jedes gesprochene Wort im Online-Archiv speichern und die kleinste Unkonzentriertheit der Schüler sofort bemerken. Anhand von Gesichtsausdruck, Gestik und Körpertemperatur kann die Software Rückschlüsse auf den psychischen Zustand der Heranwachsenden ziehen. Und auch in den eigenen vier Wänden soll die Beobachtung weitergehen: Eine App kontrolliert mithilfe der Smartphone-Kamera, ob die Hausaufgaben auch tatsächlich erledigt werden.

Noch ist dies nur ein Pilotprojekt, das in neun Städten in der Provinz Guizhou ausprobiert wird. Doch schon bald werden sieben Millionen Schüler von dem Softwareprogramm erfasst. Im nächsten Schritt könnte es dann flächendeckend im ganzen Land eingesetzt werden.

Beim Gespräch mit Geschäftsführer Ban Chao stellt sich heraus, dass die moralischen Problemstellungen keine Rolle spielen. Ob man Kinderpsychologen bei der Entwicklung des Online-Klassenzimmers zurate gezogen hat? »Die Schüler stehen doch nicht allzu lange unter Beobachtung. Die Intention der Software ist es lediglich, die Handlungen der Schüler, ihre Wortmeldungen und ihre mentale Verfassung zu messen«, sagt er mit entwaffnender Ehrlichkeit. Es gehe vor allem darum, die akademische Leistung der Schüler mithilfe der Technik zu verbessern.

Das digitale Klassenzimmer in Guiyang reiht sich dabei ein in ein umfassendes gesellschaftliches Experiment, das die chinesische Staatsführung vorantreibt. Am ehesten lässt es sich als »Social Engineering« umschreiben: der systematische Versuch, mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz und vollständiger Überwachung einen vorbildlichen und geradezu makellosen Bürger zu erziehen.

Die Möglichkeiten der Gegenwart übersteigen bereits jetzt den Vorstellungshorizont vieler Science-Fiction-Filme: Wer etwa in Shanghai bei Rot über die Ampel geht, bekommt seine Strafe dank omnipräsenter Gesichtserkennung automatisch zugestellt. Die biometrischen Daten werden von den Chinesen ganz freiwillig und geradezu beiläufig aktualisiert: In immer mehr U-Bahnhöfen lässt sich die Ticketschranke nämlich nur noch via Gesichtsscan öffnen. Schon jetzt können die Sozialämter mit einem simplen Zugriff auf die Überwachungskameras der Stadt abgleichen, ob etwa ein Bezieher von Arbeitslosengeld nicht heimlich ein Luxusfahrzeug besitzt. Und wer das Rauchverbot im öffentlichen Raum wiederholt missachtet, kann problemlos von den Autoritäten gemaßregelt werden – etwa indem ihm für einen gewissen Zeitraum verboten wird, Tickets für Hochgeschwindigkeitszüge zu kaufen. Mit der ersten staatlichen Digitalwährung der Welt, die in China bereits in flächendeckenden Pilotprojekten eingesetzt wird, lässt sich zudem jede einzelne Transaktion der Bürger nachverfolgen.

Die chinesische Gesellschaft der Zukunft ist, wenn es nach den führenden Parteikadern in Peking geht, eine Utopie ohne Sozialbetrug, Steuerhinterziehung und Gewaltverbrechen. Doch ebenso ist sie eine Welt, in der es weder Privatsphäre gibt noch freie Meinungsäußerung oder politische Opposition. Die Technologie soll einerseits dabei helfen, Armut zu bekämpfen, und andererseits, ein autoritäres Regime an der Macht zu halten.

Dabei ist Datenschutz innerhalb Chinas durchaus ein kontrovers debattiertes Thema, zumindest wenn es um die kommerziellen Interessen von Unternehmen geht. Tatsächlich wahrt der Staat die Interessen der Bevölkerung, wie zuletzt ein Gesetzesvorstoß der Stadtregierung Shenzhens beweist, der es Smartphone-Apps verbietet, Benutzerprofile von Minderjährigen zu erstellen und ihnen personalisierte Werbeempfehlungen maßzuschneidern. Doch ein unlösbarer Widerspruch im autoritären China tritt ganz offen zutage: Während der Staat seine Bürger vor den unternehmerischen Datenkraken schützt, ist kein kritischer Diskurs über die exzessive Überwachung des Staates erwünscht.

Im Büro von Guizhou Jingshi City Investment Smart Education möchte man sich offensichtlich nicht mit kritischen Fragen aufhalten, die womöglich die Entwicklung behindern. Stattdessen tüfteln die Programmierer im Namen des technologischen Fortschritts weiter an einer Künstlichen Intelligenz fürs Klassenzimmer, die das volle Potenzial eines jeden Schülers erkennen kann. Geschäftsführer Ban Chao sagt: »Wir wollen erkennen, wie der weitere soziale Pfad eines jeden Schülers aussehen kann.« Nichts soll in China mehr dem Zufall überlassen werden.

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