Wenn Fischverkäuferinnen träumen
Berlinale Forum: An »Doch rybaka« fasziniert seine kompromisslos surreale Ästhetik
Man sollte aufpassen, was man vor dem Schlafen trinkt! Besser keinen Tee, den einem Fremde geben. Noch dazu, wenn dies eine alte Frau ist, der man die böse Fee schon von Weitem ansieht. Aber die Fischverkäuferin Polina (Alina Korol) schläft schlecht, da wird man schnell anfällig für obskure Versprechen aller Art.
Kaum hat Polina eine Tasse Schlaftee getrunken, beginnt der psychedelische Trip: eine Art »Alice im Wunderland« auf Russisch. Uldus Bakhtiozina (geboren 1986 in Leningrad) ist eigentlich bildende Künstlerin, die sich eigene höchst artifizielle Welten erschafft. In »Doch rybaka« setzt sie die pittoresken Figurinen in Bewegung. In diese Welt tritt nun die (proletarisch sozialisierte) Fischverkäuferin Polina wie durch einen Spiegel ein.
Aus dem Off hören wir den Kommentar dazu: Wer in diesen Spiegel blicke, dem öffne sich eine neue Welt. Aber die so angeschaute Welt hinter dem Spiegel (das Unbewusste!) schaut gleichsam auf uns zurück. Da beobachten sich zwei, man könnte auch sagen, sie belauern sich.
Überhaupt, Märchen scheinen gerade wieder Konjunktur zu haben. Vielleicht, weil sie den Fantasieraum für das Mögliche wieder öffnen und alle ästhetischen Darstellungsformen - am besten alle auf einmal in ihrer Unterschiedlichkeit - zulassen. Das Ergebnis muss kein logisches sein, im Gegenteil. Die neu verzauberte Welt birgt ungeahnte Erkenntnismöglichkeiten, auch für Polina.
In der Welt hinter dem Spiegel warten eine ganze Reihe von skurrilen, jungen wie alten, Frauen, aber fast keine Männer. Nur einmal sehen wir welche bei einer grotesken Parade von Mode-Freak-Zombies. Die Frauen wollen Polina prüfen, ob sie als neue Zarevna, als Regentin, geeignet sei. Die Fischverkäuferin als Staatslenkerin! Eine schöne Utopie, die an die Köchin mit Möglichkeiten bei Lenin erinnert, heute aber nur noch ein Märchenstoff ist.
An diesem nur 70 Minuten langen Film fasziniert seine kompromisslos surreale Ästhetik, die keineswegs digital erzeugt wurde, sondern pure Handarbeit der Regisseurin ist. Über die Bilder aus dem Reich hinter dem Spiegel ergießt sich eine merkwürdige Patina. Wie überpudert oder in Milch getaucht. Ein Weiß, das sein Haltbarkeitsdatum längst überschritten hat. Da ist einiges an russischer Folklore (die Babuschka aus dem klassischen russischen Märchenfilm der Stalinzeit) im Spiel, aber sie wirkt immer wie aus der Gruft entstiegen. Ist dies am Ende nur ein Totentanz, in dem die gerade geweckten Erwartungen ihren banalen Tod sterben?
Die Bilder prägen diesen Film auf eine geradezu dominante Weise. Was für überbordende Kostüme, was für riesige Perücken, was für betondickes Make-up! Biedermeier auf futuristische Art. Das Leben, oder bloß die Simulation eines solchen wie hinter Glas der allgemeinen Besichtigung ausgesetzt? Und dann zerbricht es - und lauter winzige Glaskugeln fallen geräuschvoll herab, wie Hagelkörner oder Tränen von Fabelwesen, die dahin rollen, wohin ihnen kein Sterblicher folgen kann. In ein Schwimmbad der märchenhaften Identitätsverdopplung etwa. Hier schwimmen zwei Polinas mit erdrückend schwerem Schwanenkopfschmuck aufeinander zu; das ist Teil einer Metaphernorgie an der Grenze zur Hermetik. Und gäbe es nicht immer wieder ironische Brechungen der zelebrierten Ornamentik, man müsste diese für Kitsch halten.
Irgendwann trifft Polina, ausgesetzt in jener aus der Zeit gefallenen Märchenwelt, auf eine Runde uralter Ritterinnen. An einer imaginären Tafelrunde sitzend schwenken sie Glaspokale, angefüllt mit einer grünlichen Flüssigkeit. Darin das erlösende Gift, das trinken muss, wer dauerhaft dieser Welt der Halbschatten angehören will. Erlösung ist das nicht, findet Polina, den ihr zugewiesenen Pokal unschlüssig in Händen drehend. Eigentlich will sie nichts anderes als zurück in ihr eigenes unspektakuläres Leben. Wohin einen die Schlaflosigkeit und die falschen Versprechungen, uns von ihr zu befreien, doch führen können!
Am Ende sehen wir Polina in einer Eiswüste beim Angeln. Aber die einstige Fischverkäuferin holt keinen Fisch aus dem Eisloch, sondern etwas gänzlich Unerwartetes. So wundersam kann es zugehen im Leben, will uns die Regisseurin wohl damit sagen. Nun ja, diese Art Symbolik ließe sich noch etwas verfeinern - aber der ästhetische Furor des in der Forum-Reihe platzierten Films beeindruckt.
»Doch rybaka«: Russische Föderation 2020. Regie und Buch: Uldus Bakhtiozina. Termine: 18.6., 21.30 Uhr, Atelier Gardens Freiluftkino @ BUFA; 19.6., 21.30 Uhr, silent green.
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