- Politik
- 80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion
In Europa entsteht eine neue Mauer
Sergei J. Netschajew über den Großen Vaterländischen Krieg, Russophobie und eine mögliche Welt in Frieden
Herr Botschafter, welchen Stellenwert nimmt noch heute im öffentlichen Gedächtnis in Russland der Große Vaterländische Krieg ein, der vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion begonnen hatte?
Der 22. Juni ist ein trauervoller und tragischer Tag für alle russischen Bürger und die überwiegende Mehrheit der Menschen in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Durch den wortbrüchigen Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion entfesselte es den verheerendsten und blutigsten Konflikt in der Geschichte der Menschheit - einen Vernichtungs- und Versklavungskrieg gegen ganze Völker. Dieser forderte 27 Millionen Menschenleben. Die Opfer waren mehrheitlich Zivilisten. Der Krieg brachte unermessliche Zerstörungen, Hunderttausende gebrochene Schicksale, Leid und Kummer.Sergei J. Netschajew, geboren 1953 in Moskau, studierte Germanistik an der Lomonossow-Universität. Seine diplomatische Karriere begann er 1977 als Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft in der DDR. Anschließend arbeitete er im Generalkonsulats der UdSSR in Erdenet, Mongolei. Anfang der 2000er Jahre war er Generalskonsul in Bonn. Seit 2018 ist er außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland. Mit Sergej J. Netschajew sprach Karlen Vesper.
Durch ihre unfassbaren Bemühungen leitete das sowjetische Volk die Wende im Zweiten Weltkrieg ein und leistete einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über den Nazismus. Das darf man nicht vergessen.
Man sagt, dass faktisch jede Familie in Russland vom Krieg - in welcher Art auch immer - betroffen war, mindestens ein Opfer zu beklagen hatte.
Das stimmt. Der Große Vaterländische Krieg hinterließ eine schreckliche Spur in der Geschichte und traf fast jede sowjetische Familie. Schauen Sie doch, welch enorme Unterstützung die Aktion »Unsterbliches Regiment« in der Bevölkerung genießt, wenn Hunderttausende Menschen mit Porträts ihrer Verwandten, die den Sieg über den Faschismus ein Stück näher brachten, auf die Straßen gehen.
Leider gibt es mit der Zeit immer weniger Überlebende des Krieges. Immer mehr Veteranen scheiden aus dem Leben. Der Mensch lebt jedoch, solange die Erinnerung an ihn lebendig ist. Gerade deshalb ist es unsere heilige Pflicht, die Erinnerung an die Heldentat des sowjetischen Volkes zu bewahren, es nicht zuzulassen, dass diese Heldentat vergessen wird, und gegen jegliche Versuche der Geschichtsfälschung vorzugehen.Uns, der Nachkriegsgeneration, wurde niemals und von niemandem Hass gegen das deutsche Volk eingeimpft. Trotz enormer Opfer und anderer Wunden des Krieges entschied sich unser Volk bewusst für die historische Aussöhnung. Dieser Weg war lang und schwierig, aber ich bin überzeugt, dass er alternativlos war - und ist.
Sie waren Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft in der DDR in den 70er Jahren und Anfang der 2000er Jahre Generalkonsul in Bonn. Seit 2018 sind Sie nunmehr Botschafter der Russischen Föderation in Berlin. Wenn Sie die deutsch-russischen Beziehungen in diesem Zeitraum resümieren - wie fällt Ihr Urteil aus? Ein stetiges Auf und Ab im Beziehungsgeflecht unserer beiden Völker, mal zum Guten, mal zum Schlechten?
Der herausragende Vertreter der russischen Diplomatenschule und exzellenter Kenner der deutschen Sprache und Geschichte, Julij Kwizinskij, schrieb einmal: »In unseren Angelegenheiten mit Deutschland brauchte man immer guten Willen, Engagement, aber auch Nüchternheit und Vorsicht. Man sollte verstehen, dass es notwendig ist, systematisch hin und wieder auftretende Schräglagen und Verzerrungen auszuglätten.« Dem kann man nur schwer widersprechen. »Schräglagen und Verzerrungen« traten auf und werden offenbar in den russisch-deutschen Beziehungen weiterhin auftreten.
Zum Beispiel hat die Berliner Mauer, deren Baubeginn sich in diesem Jahre zum 60. Mal jährt, das Bewusstsein ganzer Generationen gespalten, indem sie die Grenze zwischen »Freund« und »Feind« auf Dauer verankerte. Dabei haben die Entwicklungen der zweiten Hälfte der 80er Jahre die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglicht sowie die Aussichten für die Überwindung sowohl politischer als auch mentaler Grenzen vorbestimmt. Alte Hindernisse wurden beseitigt, die Berliner Mauer - Symbol der Konfrontation und des Kalten Krieges - wurde in Souvenirsteinchen zerlegt. Damals schien es uns völlig unvorstellbar, dass sich Deutschland für eine Zuspitzung in den Beziehungen zu Russland entscheiden könnte, von einer Handvoll Russophoben in der Europäischen Union bewusst aufgezwungen.Trotz vieler Meinungsverschiedenheiten waren wir doch in der Lage, uns gegenseitig zuzuhören und zu verstehen, unser bilaterales politisches Vokabular durch den Begriff »strategische Partnerschaft« zu bereichern, diesen mit neuen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und humanitären Inhalten zu füllen. Leider wird jetzt wieder eine Mauer in Europa errichtet. Nicht aus Eisen und Beton, sondern aus Ultimaten, Forderungen, haltlosen Beschuldigungen und Doppelstandards. Unsere Vorschläge, sich ehrlich und professionell mit aktuell auftretenden Problemen anhand der Fakten auseinanderzusetzen, stießen auf belehrende Arroganz und kollektive Ablehnung europäischer Partner. Es ist eine gefährliche Zerrüttung eines einst festen Fundaments der Beziehungen zu beobachten. In der EU werden Richtlinien nach dem Motto »Abfuhr, Eindämmung, Kooperation« in Bezug auf Russland formuliert. Ist das etwa konstruktiv?
Natürlich nicht.
Russland setzt sich trotzdem weiterhin für Kooperation, basierend auf gegenseitiger Achtung, Gleichberechtigung und der Suche nach Interessengleichgewicht, ein. Sanktionen, Ultimaten und Versuche, mit uns aus der Position der Stärke heraus zu sprechen, werden nicht helfen, unsere Beziehungen aus der Sackgasse zu bringen.
Im vergangenen Jahr hat Ihr Präsident, Wladimir Putin, in einem viel beachteten, über diverse russische und ausländische Medien verbreiteten Artikel eindringlich auf die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges verwiesen. Sehen Sie heute eine ähnlich feindliche Umkreisung Russlands?
In seinem Grundsatzartikel »75 Jahre Großer Sieg: Gemeinsame Verantwortung vor Geschichte und Zukunft« hat der russische Präsident darauf hingewiesen, dass sich in letzter Zeit die Versuche häufen, die Ursachen, den Fortgang und die Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs zu verdrehen. Im Westen greift man immer häufiger auf die These von »gleicher Verantwortung« Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion für die Entfesselung des Konflikts zurück. Dabei ist es durchaus offensichtlich, dass es moralisch verwerflich und schlichtweg inakzeptabel ist, mit Nazi-Deutschland und der Sowjetunion den Aggressor und das Opfer, den Besatzer und den Befreier gleichzustellen.
Verstärkt versucht man auch, die allgemein anerkannten Lehren des Krieges, insbesondere die Urteile der Nürnberger Prozesse, zu revidieren. In einigen Ländern will man die Verbrechen der Nazis und Kollaborateure rechtfertigen. Man geht immer rigoroser gegen Denkmäler und Grabstätten sowjetischer Soldaten vor, begleitet durch Vandalismus und Schändung. Es keimt und sprießt neonazistisches Gedankengut. Mit behördlicher Zustimmung werden in den EU-Staaten Aufmärsche und Aktionen abgehalten, die die Waffen-SS und Helfershelfer der Nazis glorifizieren. Davor darf man nicht die Augen verschließen.
Stichwort »feindliche Umkreisung«: Wie gesagt, es geht hier eher um falsch verstandene »Solidarität«. Diese zeigt sich leider nicht im Versuch, sich ehrlich mit aktuell auftretenden Problemen auseinanderzusetzen, sondern in weiteren Spiralen antirussische Rhetorik, im Verzicht, Grundsatzinteressen unseres Landes zu berücksichtigen sowie in der Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten.
Wie wünschen Sie sich die Beziehungen zwischen unseren Völkern und Staaten? Welchen Stellenwert nimmt Deutschland in Russland ein? Vor über 200 Jahren waren die Bande ziemlich eng geknüpft - nicht nur auf dynastischer Ebene, sondern auch hinsichtlich kulturellen und wissenschaftlichen Austausches. Wobei für Letzteres allein die Namen der Universalgelehrten Michail Lomonossow und Alexander von Humboldt stehen. Auch zog es damals viele Handwerker und Händler aus Deutschland nach Russland wie auch umgekehrt. Und heute?
Der aktuelle Zustand der deutsch-russischen Beziehungen entspricht nicht dem, was wir uns wünschen. Es gibt auch objektive Gründe dafür. In Europa findet ein politischer Generationenwechsel statt. Angehende ambitionierte Politiker sind mit den Umständen bei der Aufnahme des schwierigen Nachkriegsdialogs und der Zusammenarbeit in Zeiten des Kalten Krieges nicht vertraut. Sie kennen nicht das Klima der Gespräche, die zur deutschen Einheit führten. Viele in Europa haben jedoch die Logik der »Sieger« im Kalten Krieg und der Unerschütterlichkeit der westlich liberalen Werte verinnerlicht.
Doch das Leben diktiert die Notwendigkeit eines Neustarts in unseren bilateralen Beziehungen. Ich glaube, dass die Grundlage dafür das über Jahre gesammelte positive Potenzial unserer gemeinsamen Geschichte, menschlicher Kontakte und der Zusammenarbeit sein sollte. Russland und Deutschland haben weiterhin viele gemeinsame Themen und Interessen, inklusive des Ausbaus der gegenseitig vorteilhaften Kooperation in den Bereichen Handel, Wirtschaft, Energie und Investitionen mit Schwerpunkt auf aussichtsreiche Kooperationsbereiche wie Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Wasserstoff, erneuerbare Energien und Klimaschutz. Erfolgreich entwickelt sich der Austausch zwischen den Parlamenten, Zivilgesellschaften und Jugendlichen. Partnerschaften zwischen Städten und Regionen werden immer stärker. Man setzt das Zusammenwirken im Bereich der Kriegsgräberfürsorge fort. Der kulturelle und touristische Austausch bleibt aktiv. Wir hoffen, dass mit der Überwindung der Corona-Pandemie diese Aktivitäten zunehmen werden.
Russland hat niemals die Türen für Dialog und Zusammenarbeit geschlossen. Auch jetzt sind wir für eine pragmatische und zukunftszugewandte Arbeit, die sich auf den Willen der überwiegenden Mehrheit der Russen und Deutschen stützt, im Frieden und Einvernehmen zu leben, ein prosperierendes großes Europa von Lissabon bis Wladiwostok aufzubauen.
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