Freundschaft muss Maxime werden

Eskalationspolitik und Geschichtsvergessenheit sind zwei Seiten derselben Medaille der Politik gegenüber Russland, meint Sevim Dagdelen

  • Sevim Dagdelen
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Eskalations- und Hochrüstungspolitik der Nato gegenüber Russland und die Geschichtsvergessenheit der deutschen Bundesregierung, was die Erinnerung an den Überfall an die Sowjetunion vor 80 Jahren angeht, sind lediglich zwei Seiten einer Medaille. Die deutsch-russischen Beziehungen sind an einem Tiefpunkt angelangt. Es vergeht kaum ein Tag ohne neue Sanktionsforderungen gegen Russland. Statt auf diplomatische Verständigung setzt die Bundesregierung auf eine beispiellose Aufrüstung, um in wenigen Jahren mit Militärausgaben von 85 Milliarden Euro, weit vor Russland mit derzeit 54 Milliarden Euro, ausgabenstärkste Militärmacht auf dem Kontinent zu werden. Die Bundesregierung stellt die Weichen ganz offen auf die Vorbereitung eines Krieges gegen Russland. Bei ihrem jüngsten Besuch in Guam verkündete die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer auf dem US-Kriegsschiff »USS Charleston« vor den dort versammelten Soldaten: »Wir kämpfen für Demokratie, Freiheit und eine auf Regeln basierte Ordnung, Seite an Seite. In Europa ist Russland der Gegner, hier eher China.«

Wer Russland den Kampf ansagt, ist selbstverständlich nicht an Entspannung oder gar einem »Gemeinsamen Haus Europa« interessiert. Es werden im Gegenteil propagandistisch neue Feindbilder geschürt, um einen Waffengang gegen Russland vorzubereiten. Sicher, noch ist es nicht so weit. In der Diskussionsendung »Kontrovers« im Deutschlandfunk sprach der Grüne Manuel Sarrazin davon, ein Krieg gegen Russland sei »unrealistisch«. Einen Angriff auf Russland als unrealistisch zu bezeichnen, zeugt sicher nicht von überzeugter Kriegsgegnerschaft. Zugleich wird die Präsenz deutscher Truppen im Rahmen der Nato an der russischen Westgrenze im Baltikum verstetigt und mit »Defender 2021« die schnelle Verlegung nach Osten geübt. Auch US-Atombomber sind am Manöver beteiligt. Säbelrasseln, Konfrontationsgeschrei und Kriegsgeheul prägen die deutsche Öffentlichkeit zunehmend. Jeder, der widerspricht, wird als Kreml-Marionette abgestempelt. Das darf getrost als Teil einer moralischen Mobilmachung und Kriegsvorbereitung gewertet werden.

Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, wenn die Bundesregierung und eine Koalitionsmehrheit im Bundestag, unterstützt von Grünen und FDP, kein offizielles Gedenken an den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion zulassen wollen. Wer sich vor Augen führt, welch barbarische Verbrechen deutsche Soldaten im Raub- und Vernichtungskrieg begangen haben, der müsste sich fragen lassen, ob Deutschland die Rolle des moralischen Oberlehrers in Europa wirklich auf den Leib geschneidert ist. Der faschistische Krieg in der Sowjetunion wurde vom ersten Tag an mit den Mitteln des Terrors gegen die Zivilbevölkerung geführt. 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger aller Nationalitäten der Sowjetunion wurden durch Krieg und deutsche Besatzung getötet. Die deutsche Wehrmacht hinterließ verbrannte Erde. Schätzungen zufolge waren 30 Prozent des Territoriums nach der Befreiung durch die Rote Armee zunächst unbewohnbar.

Neben der Union ist bei den Grünen der Drang am stärksten spürbar, deutsche Außenpolitik von der Last der Vergangenheit zu befreien. Erinnert werden soll schon, aber bitte ohne Schlussfolgerungen für die Gegenwart. Weit weist man den Vorwurf des Russland-Hasses von sich, aber doppelte Standards beim Umgang etwa mit den Massenmördern der USA, ihren Präsidenten Barack Obama, Donald Trump oder Joe Biden, die Tausende Menschen per Tötungsbefehl in den vergangenen Jahren weltweit ermorden ließen, fallen ins Auge. Man träumt sich ein Russland, in dem die mit dem Westen verbündeten Oligarchen die Rohstoffe des Landes wie zu Zeiten von Boris Jelzin für eine Flasche Wodka herüberreichen. Das will man wiederhaben und ist der Kern der Aggressionsbereitschaft von Norbert Röttgen bis Robert Habeck gen Osten.

Der Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion darf nicht in Vergessenheit geraten. Es kann nur eine Lehre aus dieser furchtbaren Barbarei geben: Freundschaft mit Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken muss Maxime deutscher Politik werden.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -