Die große Bärin

Der letzte Sommer: Angela Merkel tritt sie als Regierungschefin ab, die es allen recht machen wollte. Ein ganz persönlicher Abschied

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 8 Min.

Als es am ersten Wahlsieg der Angela Merkel 2005 nichts mehr zu rütteln gab, legte der Eichborn Verlag eine Publikation unter dem Titel »16 Jahre Merkel sind genug« vor. Auf dem Deckblatt: ein auf alt verfremdetes Merkel-Gesicht mit wuchtiger Omafrisur. Das war damals witzig und keineswegs ernst gemeint. Dass diese Frau länger als eine Legislaturperiode im Amt überleben könnte, glaubte zu diesem Zeitpunkt niemand, sie selbst vielleicht auch nicht.

Heute lacht darüber niemand mehr. Die 16 Jahre Merkel-Amtszeit sind von einer lustigen Utopie zur seltsamen Wirklichkeit mutiert. Im Vorfeld der Wahl 2005, die Deutschland und der Welt eine Kanzlerin mit Namen Angela Merkel bescheren sollte, erschienen sieben Bücher über diese Frau. Sechs von Westautoren und ein Buch von mir. Ich dachte mir, wie sich die Wessis über diese Frau verbreiten, das weiß ja jeder, aber vielleicht ist es nicht völlig unwichtig, was unsereiner zu dieser Person zu sagen hat. So erblickte dieses Buch das Licht der Welt: »Das Mädchen für alles - Angela Merkel, ein Annäherungsversuch«.

Natürlich unterscheidet sich mein Buch von den Westbüchern über die CDU-Politikerin. Wie konnte es sein, so stellte ich die Frage, dass mit Merkel (und von 2012 bis 2015 mit Joachim Gauck als Bundespräsident) zwei Ostdeutsche die höchsten Ämter der Bundesrepublik gelangten, die nicht aus Kreisen des Widerstands stammten, sondern vollkommen loyale DDR-Bürger waren und von Widerstand gegen die SED-Herrschaft kaum weniger weit entfernt waren als unsereiner? Oder ich fragte angesichts der westdeutschen Intensivsuche nach den exklusiven »Geheimnissen« dieser Frau Merkel, ob es nicht einfach Banalität gewesen sein könnte, die bei diesem Siegeszug den Ausschlag gegeben hatte.

Mein Buch unterschied sich auch in einem ganz unmittelbaren, überprüfbaren Sinne von denen der westdeutschen Konkurrenz. Denn alle anderen Autoren gingen 2005 wie selbstverständlich davon aus, dass Merkel nach ihrer Wahl die Chefin einer CDU-FDP-Regierung werden würde. Ich war der Einzige, der schrieb, das kommt nicht, weil es nicht kommen kann. Der Aufstieg Angela Merkels war begleitet von einem Aufschwung der PDS (die sich 2007 mit der WASG 2007 zur Linkspartei zusammenschloss). Und ich wusste: Die PDS würde 2005 im Bundestag so stark werden, dass sie eine Art Zünglein an der Waage betätigen würde. Weder eine CDU-FDP-Regierung (»Schwarz-Gelb«) noch eine SPD-Grünen-Regierung würde eine Mehrheit haben. Der politische Erfolg der PDS 2005 zwang die Politik Deutschlands zu einer Großen Koalition. Dieser wichtige Punkt war an mich gegangen.

Wenn die herrschende Klasse herrscht

Aber ich bekenne: Auch ich lag keineswegs mit allem richtig, was ich in diesem Buch gewissermaßen an die Wand gemalt hatte. Denn auch ich sah in ihr die »Konservative«, den »eiskalten Engel« (Angela heißt »der Engel«), der - einer Margarete Thatcher in Großbritannien in den 80er Jahren gleich - zum Flug über Deutschland ansetzt und den Tisch abräumt, anstatt ihn zu decken.

So aber kann man den politischen Kurs nicht beschreiben, den Angela Merkel in den vergangenen 16 Jahren als Kanzlerin gehalten hat. Natürlich, um das Entscheidende kurz abzuhandeln, wurden in dieser Zeit die Reichen reicher, die sozialen Abstände tief greifender, die Privilegierten in ihren Privilegien massiv gestärkt und der Rest irgendwie gerade so abgefunden. So ist es nun mal, wenn die herrschende Klasse herrscht. Das war der Sinn der Übung - auch wenn inzwischen linke Politiker unsere »offene demokratische Gesellschaft« preisen.

Das von Merkel damals geerbte politische Vorfeld war für diesen Stil günstig. Denn was war die Bilanz der rot-grünen Regierung unter Gerhard-Schröder (SPD) und Joseph Fischer (Grüne), der »linkesten aller jemals bestehenden Bundesregierungen«: Weitere Entfesselung der Hedgefonds, Absenkung des Spitzensteuersatzes, der erste völkerrechtswidrige deutsche Angriffskrieg nach dem Zweiten Weltkrieg, Armut per Gesetz durch Hartz IV, eine Energiewende, welche die Rentner bezahlen müssen, aber nicht die Energiekonzerne, Volksveralberung durch die Riester-Rente und ein Pfandflaschensystem nach dem Vorbild der DDR.

Wie wollte Angela Merkel das noch rechts überholen? Während sich die Sozialdemokraten von diesen Schröder-Jahren (»Genosse der Bosse«) nie erholt haben (und sich offenbar auch niemals erholen wird), waren die Grünen in der Lage, die verheerende Bilanz der Regierungszeit abzuschütteln und sich heute - ein Treppenwitz der Politgeschichte - als große Hoffnung in Grün zu präsentieren.

Vom sowjetischen Staatschef Josef Stalin (1879-1953) heißt es, dass er in der praktischen Politik mal weit rechts von seinen rechten Kritikern stand und gelegentlich auch mal weit links von seinen linken. Stalin hatte nach eigenem Selbstverständnis als Staatsoberhaupt nicht unbedingt eine Ideologie zu erfüllen, sondern ein Reich zu regieren. Ähnlich verhält es sich bei Angela Merkel, die Frage aber ist, ob sie etwas Dauerhaftes hinterlassen kann. Einem überkommenen Raster entspricht ihre politische Praxis nicht. Sie bemüht sich, ihrer Regierung einen Sinn zu geben, in dem sie »auf Sicht« fährt, saugt grüne Ziele (Klimawandel, Atomausstieg, Kohleausstieg) auf wie auch soziale Aspekte (Mindestlohn, Respektrente, Flüchtlingswillkommen, Herero-Völkermord-Anerkennung). Dabei hat sie außen- und innenpolitisch eine Unschärfe einziehen lassen, in der alle politischen Katzen grau sind; inhaltlich sind in ihrer Amtszeit sämtliche Parteien (außer der AfD) noch stärker aufeinandergerückt, als sie es zuvor schon getan hatten.

Sich nicht festzulegen, taktisch abzuwarten, alle Eisen im Feuer zu behalten - das gilt als Tugend Merkels, die sie in das Amt geführt hätten. Aber ist dieser Stil auch für die deutsche Politik sinnvoll? Auf jeden Fall haben andere ihn schon mal kopiert: Inzwischen kann wohl so gut wie jeder mit jedem in der »demokratischen Familie« - selbst eine Koalition CDU-Linke scheint für manchen nicht mehr prinzipiell ausgeschlossen. Deutschland erlebt die Wiederauferstehung des von Kurt Tucholsky in den 20er-Jahren beschriebenen »Bürgerrechtslinksblocks«. Die politische Vielfalt ist nur noch vermeintlich, oberflächlich, äußerlich, folkloristisch. Der politische Abstand zwischen den Parteien ist nicht mehr größer als der zwischen DDR-Blockparteien untereinander.

Parallel dazu erfuhr die deutsche Staatsapparatur eine Aufblähung und Verteuerung, die für die Endphase des Römischen Reiches typisch war. Deutschland leistet sich ein Parlament, das nach dem chinesischen das größte der Welt ist. Handwerk, Pflege, Landwirtschaft, Fremdenverkehr geraten personell in eine unhaltbare Lage, während die Staatsapparatur sich personell immer mehr vollsaugt: In den extrem schwierigen Nachkriegszeiten kam das Bundeskanzleramt mit 120 Mitarbeitern aus - das 2009 eingeweihte neue Gebäude in Berlin an der Spree ist heute schon wieder zu klein, weil die 750 Beamten dort einfach nicht mehr hineinpassen.

Unter Merkel sind Bundesministerien entstanden, die in ihrer Ausstattung eher Wellnesstempeln gleichen. Dieser Stil wurde von den Bundesländern bereitwillig kopiert: Vor 16 Jahren betrug die durchschnittliche Beamtenpension in Brandenburg das Zweieinhalbfache der Durchschnittsrente - heute ist es das Viereinhalbfache. Es ist sonnenklar, für wen in Deutschland der Weizen blüht.

Während Politiker, Beamte und Rundfunk-Festangestellte den stolzen Anwartschaften entgegenfiebern, hat auf der anderen Seite die von Merkel (gleichwohl nicht von ihr allein) betriebene »Euro-Rettung«, d. h. die Null-Zins-Politik, dazu geführt, dass Ärzte, Anwälte und Handwerksmeister massive Abstriche an ihrer Altersversorgung hinnehmen müssen, sofern sie überhaupt noch eine bekommen. Denn die zur Privatvorsorge Gezwungenen können einzahlen, was sie wollen - ohne den Zins- und Zinseszins-Effekt geht die Rechnung nicht auf. Im besten Fall werden sie einen guten Euro eingezahlt haben und einen schlechten rückerstattet bekommen.

Draghi erhält das Bundesverdienstkreuz

Der im Frühjahr erfolge Eintritt in die »Schulden-Union« ist eine Maßnahme mehr, die dazu führt, dass nicht die Profiteure des europäischen Verschuldungskurses seit 2000, also Millionäre und Milliardäre, für die Folgen aufkommen müssen. Diesen Präzedenzfall wollten Angela Merkel und Mario Draghi nicht. Nein, den bezahlen die Sparer und Privatversicherten ganz Europas mit der gar nicht mehr schleichenden Entwertung ihrer Vermögen. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich ruhig in Deutschland, dem »Land der Sparer«, was wiederum auch kein Wunder ist: Denn dieses Land war ohnehin nie besonders ehrlich zu sich selbst. In seiner spezifischen Verlogenheit wird immer irgendwas ganz heftig diskutiert - aber nie das wirklich Wichtige oder das, woran alle pausenlos denken. So geht alles seinen Gang. Und Draghi bekommt das Bundesverdienstkreuz.

Ein Platz zwischen allen Stühlen

Die Unterordnung der Interessen großer Teile der Bevölkerung unter die Wünsche in- und ausländischer Kapitalvermehrer ist neben der unfassbaren Verteuerung des öffentlichen Dienstes der finanzpolitisch wichtigste Zug der Merkel-Jahre. Zum Ausdruck kommt darin auch die Schwächung Deutschlands innerhalb der EU. Wenn Frau Merkel das Volk zur Vermögensrettung für Spekulanten - woher auch immer - einsetzen muss, dann ist klar, wo die Macht inzwischen liegt.

Interessenpolitik statt Humanität - Aert van Riel zum außenpolitischen Erbe von Kanzlerin Angela Merkel

Nahm Angela Merkel, die erfolgreiche Teilnehmerin an der Russisch-Olympiade in ihrer Schulzeit, zumindest dieses Erbe von Vorgänger Schröder auf und pflegte halbwegs gute Beziehungen zu Russland? Kaum gekürt, erklärte sie, dass alle Wege nach Moskau über Warschau führen werden. Zu ihren politischen Ergebnissen gehört eine substanzielle Verschlechterung der Beziehungen zum Reich im Osten. Deutschland ist heute in Moskau nicht gut angesehen, wird von Warschau dennoch nicht geliebt, sondern notorisch misstrauisch beäugt.

Das kommt heraus, wenn man für niemanden eindeutig handelt: ein Platz zwischen allen Stühlen. Vielleicht wird es einmal heißen, mit der ewigen Zweideutigkeit Angela Merkels wurde Deutschland in die politische Zweitklassigkeit befördert. Dass sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat und einen antiquierten, untauglichen Politstil verfolgte. Dass ihre Politik »von gestern« war. Mit ihr habe das Land nur Zeit verloren. Zeit, die hätte genutzt werden müssen, um seine Rolle in einer sich verändernden Welt neu zu bestimmen und die großen Krisen rechtzeitig und grundsätzlich anzugehen. Das geht nun einmal nicht, wenn man es allen ein wenig recht machen will - und damit den meisten auch unrecht.

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