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Wo Dschihadisten den Richter spielen
Nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung schufen die Rebellengruppen eigene Strukturen
Sie haben sich in Ihrer Forschung intensiv mit radikal-islamistischen, salafistischen Gruppen beschäftigt, unter anderem mit der Al-Nusra-Front in Syrien, speziell in Idlib. In den von ihnen kontrollierten Gebieten haben diese Gruppen eine Art Parallelverwaltung aufgebaut und bieten Leistungen an, die normalerweise dem Staat obliegen: Sicherheit, Justiz etc. Wie muss man sich das konkret vorstellen? Man hat ja zunächst das Bild von Mörderbanden vor Augen.
Wenn massiv Gewalt ausbricht, staatliche Institutionen sich deshalb zurückziehen und die bestehende Ordnung zusammenbricht, dann ist die Gesellschaft auf sich alleine zurückgeworfen. Ganz schnell treten dann praktische Probleme auf, die gelöst werden müssen, zum Beispiel wenn Leute ausgeraubt oder sogar umgebracht werden. Da regt sich ganz schnell Bedarf nach Akteuren und Institutionen, die das regeln. Das war in Syrien nicht anders und hat ganz früh angefangen.
Regine Schwab arbeitet bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) zu politischer Gewalt und Terrorismus in bewaffneten Konflikten, speziell zu islamistischen und dschihadistischen Gruppen. Außerdem beschäftigt sie sich mit Ordnungsbildung in Bürgerkriegen und untersucht, wie parallele Strukturen zu denen des Staates entstehen oder diese ersetzen (Gerichte, Verwaltungen). Ihre Dissertation (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Halle/Goethe-Universität Frankfurt) schrieb sie zu den bewaffneten islamistischen Oppositionsgruppen im syrischen Bürgerkrieg. Dafür hat sie Hunderte von den Gruppen selbst verfasste Dokumente analysiert sowie zahlreiche Interviews mit Mitgliedern und Anführern von Rebellengruppen, Justizpersonal und sunnitischen Geistlichen auf Arabisch geführt.Mit Regine Schwab sprach Cyrus Salimi-Asl.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es war nicht so, dass vor 2011 der syrische Staat überall präsent war, alles super funktioniert hat und 2012/2013 mit der massiven Gewalt dann auf einmal alles zusammengebrochen wäre und die bewaffneten Gruppen angefangen hätten, etwas Neues aufzubauen. Gerade in eher ländlicheren Gegenden, also auch in Idlib, womit ich mich viel beschäftigt habe, da war der Staat nur teilweise präsent.Viele Konflikte haben die Leute informell geregelt, es kam also gar nicht zu einem ganz krassen Bruch. Informelle Institutionen zur Konfliktregelungen zwischen Familien gab es schon vor 2011 in vielen ländlichen Gegenden.
Wie war es in den Städten?
In Städten wie Aleppo war das anders: Da sind dann neue Akteure aufgetaucht oder haben an Einfluss gewonnen, vor allem die bewaffneten Gruppen. Die haben die Institutionen teilweise umgeformt oder auch neu gegründet, auch weil es Bedarf in der lokalen Bevölkerung gab. Anfangs waren das einfache Schiedsgerichte; Komitees wurden gegründet, die dann ad hoc entweder einen Streit geschlichtet oder »Kriminelle« verhaftet haben.
Am Anfang waren auch noch nicht-militärische Akteure involviert, juristisches Fachpersonal wie Anwälte, die versucht haben, Strukturen aufzubauen, die auch im Ausland anerkannt würden. Sie haben auch Unterstützung aus dem Ausland bekommen und versucht, eine Art »Rule of Law« zu etablieren. Aber im Endeffekt haben sich die bewaffneten Gruppen durchgesetzt mit ihren Komitees und ihren Institutionen, die dann relativ schnell in eine religiös-ideologische Richtung tendierten; sogenannte Scharia-Gerichte sind immer dominanter geworden, vor allem seit 2013.
Zuerst haben die bewaffneten Gruppen übernommen und irgendwann dann Geistliche, die entweder Teil der Gruppen oder mit ihnen assoziiert waren. Manche dieser Komitees haben sich tatsächlich institutionalisiert, viele Ad-hoc-Komitees sind aber auch wieder verschwunden. Durchsetzen konnten sich nur wenige, und diese waren mit den stärksten bewaffneten Gruppen verbunden.
Welche Institutionen gab es in Idlib?
In Idlib gab es zum Beispiel das »Islamische Komitee für das Recht«. Das war mit Ahrar Al-Scham verbunden, also einer dschihadistischen Gruppe, die sehr dominant war. Dann gab es noch ein entsprechendes Komitee, was mit der Al-Nusra-Front beziehungsweise später mit Hayat Tahrir Al-Scham verbunden war. Die Namen der Gruppen und der Komitees haben sich teilweise geändert. Die haben ein »Haus des Rechts« gegründet, rein ideologisch betrachtet mit IS-Gerichten vergleichbar. Da wurden auch die Hodud-Bestrafungen, also die Körperstrafen angewendet.
Ahrar Al-Scham war die etwas gemäßigtere Variante, aber auch ganz klar islamistisch: Die haben auch Leute ausgepeitscht und schlimme Menschenrechtsverletzungen begangen, aber weniger systematisch als die Al-Nusra-Front, und das hat auch mit der Zeit abgenommen. Diese zwei Institutionen, das »Islamische Komitee für das Recht« und das »Haus des Rechts«, haben miteinander in Idlib lange Zeit konkurriert: In dem einen Ort war die eine Gruppe und damit ihr Gericht präsent und in der anderen Stadt eben die andere Institution.
Wie unabhängig waren denn diese Institutionen?
Die bewaffneten Gruppen haben selbst gesagt, dass diese Institutionen unabhängig seien von ihnen, das haben auch viele Interviewpartner behauptet. Das stimmte tatsächlich etwas mehr bei diesem »Islamischen Komitee« als beim »Haus des Rechts«, das zur Al-Nusra-Front gehörte.
Aber von echter Unabhängigkeit kann man nicht sprechen. Bei privaten Streitigkeiten - Ehescheidungen, Verkehrsvergehen, Unfälle etc. -, also bei kleinen Geschichten, war das kein Problem: Man ist zum Gericht oder zum Komitee vor Ort gegangen, hat erzählt, was passiert ist und dann wurde das relativ schnell vor Ort gelöst; der eine musste dann eine Strafe bezahlen oder wie auch immer. Aber für die größeren Sachen, zum Beispiel Mord, oder wenn irgendwelche bewaffneten Gruppen selbst involviert waren, da konnten diese Gerichte oder Komitees gar nichts machen.
Im Zweifelsfall musste ja irgendein bewaffneter Akteur festgenommen werden, und das konnte das Gericht natürlich nicht. Das hatte ja überhaupt nicht das Personal dazu und war deshalb direkt von den bewaffneten Gruppen abhängig, weil die das dann übernehmen mussten.
Es war also wirklich schwierig, eine irgendwie legale Instanz zu etablieren, die unabhängig war von den bewaffneten Gruppen. Gleichzeitig fehlten die qualifizierten Leute, Anwälte etc., die nicht nur Dorfprediger waren, sondern auch wirklich islamisches Recht studiert hatten. Davon gab es nur sehr wenige, und viele der Anwälte und Richter - mit einigen habe ich auch gesprochen - sind ins Ausland gegangen.
Wie haben die Menschen diese parastaatlichen Dienstleistungen angenommen?
Die Menschen haben für lange Zeit eine Auswahl gehabt zwischen verschiedenen Gerichten, gerade in Idlib. Sie haben sich dann teilweise recht pragmatisch an die Institution gewandt, wo sie vermutet haben, dass sie eher Recht bekommen und dass auch schneller entschieden wird. Und den Gerichten, die mit der Al-Nusra-Front verbunden waren, wurde schon eine größere Effektivität nachgesagt, weil schneller entschieden und die schuldige Seite dann auch wirklich bestraft wurde. Aber das hat natürlich alles nichts mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu tun.
Was ist von diesen Strukturen heute noch übrig geblieben in Idlib?
Ahrar Al-Scham und die Al-Nusra-Front waren im Grunde seit 2016 oder sogar schon 2015 dominant gegenüber anderen Gruppen. Dann hat sich aber seit Mitte 2017 die Al-Nusra-Front bzw. Hayat Tahrir Al-Scham durchgesetzt. Das »Haus des Rechts« ist dann verschmolzen mit etwas, was sie selbst als Regierung bezeichnen. Die Al-Nusra-Front und andere Gruppen hatten auch noch eine Art Verwaltung, die sich um Dinge gekümmert hat wie Straßen asphaltieren, Strom verteilen oder einfach Lebensmittel organisieren. Es gab also diese rechtliche, juristische Seite, aber eben auch schon die Versorgung mit tagtäglichen Gütern und Dienstleistungen. Und das wurde 2017 verschmolzen in die, wie sie es selbst nennen, »Salvation Government«, also die »Errettungsregierung«. Darin sind diese Gerichte aufgegangen und laufen heute unter dem Mantel dieser Regierung, die von sich selbst behauptet, unabhängig zu sein von Hayat Tahrir Al-Scham - was natürlich in der Praxis nicht stimmt -, aber es gibt zumindest eine gewisse strukturelle Differenzierung und auch definitiv eine Professionalisierung.
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