Vor der Tür das Feindesland

Leo Fischer über Straßen als Eigentum der Autokonzerne und Fußgänger als Außenseiter im Verkehr

Viele Dinge, die wir für selbstverständlich halten, haben sich irgendwann Marketingleute ausgedacht, vom Morgenkaffee bis zum Weihnachtsfest. Auch die Art, wie wir uns im öffentlichen Raum bewegen, ist nicht organisch gewachsen, sondern wurde an Kapitalbedürfnissen entlang modelliert, generalstabsmäßig geplant und großflächig ausgerollt. So erforschen Alltagshistoriker zur Zeit, wie die Straße ideologisch überhaupt zur Straße wurde: War sie Anfang des 20. Jahrhunderts noch Raum für alle, selbstverständlicher Aufenthaltsort für Menschen, an deren Bedürfnissen sich die wenigen Automobilisten zu orientieren hatten, so scheuchte die sich entwickelnde Autoindustrie sukzessive die Leute auf die Bürgersteige.

In gewaltigen Kampagnen erfand sie dazu Kampfbegriffe, in den USA z.B. das Jaywalking - das unangekündigte Kreuzen der Straße, früher ein selbstverständliches Recht, das nun als tölpelhaft und hinterwäldlerisch dargestellt wurde. Mit dem Ziel der Schuldumkehr: Für die rasch steigende Zahl der Verkehrstoten sollten auf keinen Fall die Autos und ihre Fahrer verantwortlich gemacht werden, sondern eben die Jaywalker - unvorsichtige Fußgänger, die den Bedürfnissen der Autofahrer nicht schnell genug entgegenkamen. Auch in der hiesigen Verkehrserziehung hat sich das niedergeschlagen: die Straße als gefährlicher Ort, vor dem schon kleinste Kinder gewarnt werden müssen. Als Quell permanenter Besorgnis sicher eine gute Einübung auf die ständige Wachsamkeit, die man im Kapitalismus zeigen muss, will man nicht unter die Räder kommen.

Mit der gleichen absoluten Selbstverständlichkeit wurde öffentlicher Raum zu Parkplätzen umgewidmet; in europäischen Großstädten nehmen sie (und nicht Wohnflächen) den meisten anteiligen Raum ein. So wurde aus dem öffentlichen Gut Straße alleiniges Eigentum der Automobilkonzerne, die zur kostenlosen Infrastruktur auch noch weitläufige Angstpropaganda erhielt.

Derzeit findet eine weitere Revolution im Straßenverkehr statt: Fahrräder, E-Scooter und andere Vehikel nehmen in den Großstädten allmählich die Bedeutung an, die der öffentliche Nahverkehr nie haben durfte, ebenso wie die Bahn stets nur als Lückenbüßer und indirekter Werbeträger des Automobilismus funktionierte. So erfreulich der Umstieg auf klimaschonende Transportmittel ist: Der Ungeist der Automobilität wirkt auch hier wie im gesamten Individualverkehr. Das zeigt die immer noch völlig aufs Auto abgerichtete Infrastruktur: Überall sieht man die Verheerungen, die Konzepte aus den 70ern wie »Stadtautobahnen« oder »Pendlerstädte« hinterließen. Neue Fahrradwege werden so selten gebaut, dass sie oft als Modellprojekt mit eigenen Eröffnungsfeierlichkeiten begrüßt werden.

So drängen die neuen Selbstfahrer auf die Bürgersteige; inzwischen kann man sich innerstädtisch keine zehn Meter zu Fuß bewegen, ohne Kolonnen von Radfahrern ausweichen zu müssen - deren selbstverständliche Rücksichtslosigkeit den Autofahrenden in nichts nachsteht. Wo überhaupt für Fahrräder gebaut wird, werden die schlechten Konzepte der Autostädte wiederholt: Statt gemeinschaftlich nutzbarer Strukturen entstehen Fahrradschnellstraßen durch Parks, pure Zweckarchitektur, die wiederum öffentlichen Raum privatisiert, ihn dem für Konsum und Arbeit unerlässlichen Verkehrswesen überschreibt. Lästig ist man da, wo man beidem nicht nutzt: Als bloßer Fußgänger ist man ab jetzt Jaywalker, sobald man nur vor die Tür tritt - unnütz, wo man nicht in Designer-Sportkleidung auf Drahteseln hockt, die schon aus Prestigegründen genauso viel kosten wie ein Kleinwagen.

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