Nur Ziele, keine Wege

In ihrer Klimapolitik setzt die Bundesregierung weiter auf den Markt und drückt sich damit vor fälligen Maßnahmen

  • Matthias Martin Becker
  • Lesedauer: 5 Min.

Klimaneutralität per Gesetz vorzuschreiben reicht nicht - Konkretisierung tut not«, so urteilt Siegfried Russwurm über das deutsche Klimaschutzgesetz, das gestern in Kraft getreten ist. Aber Russwurm ist kein Klimaschützer von Fridays for Future, sondern Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Die Einschätzung des »Cheflobbyisten der deutschen Wirtschaft« (Süddeutsche Zeitung) unterscheidet sich in diesem Punkt dennoch nicht von der Kritik der Umweltschützer. Das Ziel Klimaneutralität werde zwar nochmals fünf Jahre vorgezogen auf 2045, schrieb Russwurm in einem Kommentar im »Handelsblatt«. Doch »offen bleibt der Weg dahin«.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Urteil vom April den Gesetzgeber verpflichtet, sogenannte Minderungsziele der Emissionen von Treibhausgasen (THG) auch für die Zeit nach 2030 festzulegen. Aus der grundgesetzlichen »Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen« leiteten die Richter ab, dass der Staat wirksame Maßnahmen für die Klimaneutralität auf den Weg bringen muss, um die Freiheit der Jungen und der kommenden Generationen zu schützen: Klimaschutz ist Staatsaufgabe.

Das neue Gesetz sieht vor, die THG-Menge bis zum Jahr 2030 um 65 Prozent zu senken (statt wie bisher geplant um 55 Prozent), bis zum Jahr 2040 um 88 Prozent. Verfehlen die Wirtschaftssektoren wie etwa Verkehr, Energie oder Industrie ihre Reduktionsziele, hat dies allerdings keine Folgen. Die Zahlen sind beliebig austauschbar, denn wie Deutschland eigentlich klimaneutral werden soll, wird nicht ausgeführt. Diese Festlegung verschiebt die Bundesregierung auf ihre Nachfolgerinnen und damit die anstehenden (Verteilungs-)Konflikte.

Trotz der dramatischen Folgen der Klimakrise führt die Regierung die alte Politik fort. Von wenigen »ordnungspolitischen« Ausnahmen abgesehen - das bedeutet gesetzliche Verbote, Vorschriften und Mengenvorgaben - setzt sie weiter auf »marktwirtschaftliche Instrumente«, auf »Emissionshandel«, »Ökosteuern« und »Technologieneutralität«. Der Markt soll uns aus der Klimakrise führen. Konkret bedeutet dies, dass schädliche Produkte und Herstellungsverfahren nicht abgewickelt werden, zum Beispiel durch ein Verbot von Verbrennungsmotoren, wie es Norwegen, Thailand oder Spanien vormachen.

»Viel inhaltliche Substanz kann ich nicht nicht entdecken«, sagt BDI-Chef Russwurm über das Klimaschutzgesetz. Die Beobachtung trifft zu, doch ist seine Kritik scheinheilig. Denn im gleichen Atemzug wendet sich Russwurm gegen »ausufernde Regulierung und eine Verbotskultur« - sprich: gegen ordnungspolitische Vorgaben für den Klimaschutz, die tatsächlich Handlungsdruck auf die Unternehmen erzeugen würden. Der Staat soll seiner Meinung nach zunächst einmal die Industrie mit billiger erneuerbarer Energie versorgen und sich ansonsten heraushalten. Dass Russwurm darüber hinaus mehr finanzielle Förderung für den Energieträger Wasserstoff fordert, kann kaum überraschen. Denn er sitzt im Aufsichtsrat von ThyssenKrupp, das sein Wasserstoffgeschäft kräftig auszubauen will.

Seit 1997 müssen europäische Unternehmen in bestimmten Wirtschaftssektoren über das Emission Trading System (ETS) Zertifikate erwerben, um THG freisetzen zu dürfen. Weil aber viel zu viele Emissionsrechte ausgegeben wurden, sanken die Kosten zeitweise unter fünf Euro pro Tonne (obwohl laut Umweltbundesamt diese Menge Kohlendioxid Schäden in Höhe von 180 Euro verursacht). Große Industriebetriebe verkauften ihre Zertifikate mit Gewinn weiter, während sie gleichzeitig riesige Mengen THG freisetzten. Immer noch wird der größere Teil der Zertifikate kostenlos verteilt, mit der Begründung, die Abwanderung der Unternehmen ins Ausland müsse verhindert werden. Die Regierungen hebelten den drohenden Kostendruck auf die einheimischen Industrien sofort wieder aus, mit Ausnahmeregelungen und Rückerstattungen.

Letztlich diente der Emissionshandel dazu, den Eindruck von Aktivität zu erwecken und Zeit zu gewinnen. Und so geht es weiter: Mit der Carbon-Leakage-Verordnung vom Frühjahr entlastet die Bundesregierung die Unternehmen, die ohnehin niedrigere Stromkosten als die Haushalte bezahlen. Wegen der zahlreichen neuen Schlupflöcher könnte sich der Emissionshandel für manche Betriebe sogar finanziell lohnen, ohne dass sie weniger CO2 in die Atmosphäre blasen.

Aufgrund der weltweiten industriellen Überkapazitäten ist die Gefahr einer Verlagerung »schmutziger« Produktion ins Ausland real. Kein Land will sich einen Standortnachteil einhandeln, indem es die Energie- und Produktionskosten erhöht. Überwinden könnte dieses Dilemma nur ein weltweites Emissionshandelssystem. Von einem koordinierten Vorgehen sind die großen Wirtschaftsmächte aber weit entfernt. Im Mai schlug Finanzminister Olaf Scholz vor, einen internationalen »Klimaclub« zu bilden, »um klimapolitische Vorreiter vor Nachteilen im internationalen Wettbewerb« zu schützen. Dieser Club solle Regeln für CO2-Bilanzierungen und -Zölle vereinbaren. Dabei dachte Scholz vor allem an die Branchen Zement, Metall, Chemie und Düngemittel: Auch deutsche Exporte würden leiden, wenn andere Nationen ernst machen mit den CO2-Steuern. Doch die USA ließen den deutschen Vorstoß ins Leere laufen. Angesichts der Spannungen mit China ist ein abgestimmtes Vorgehen der Weltmächte nicht zu erwarten, und die Schwellen- und ärmsten Ländern werden erst gar nicht gefragt.

Brandenburg - heißes Land am Meer. Das Bundesland soll im Jahr 2045 klimaneutral sein - die Regierung beginnt mit der Arbeit an einer Strategie

Zu den wenigen konkreten Festlegungen im neuen Klimaschutzgesetz zählt die Höhe des CO2-Preises: Bis 2023 soll er auf mindestens 60 Euro pro Tonne steigen. Diese Steuererhöhung wird nicht die Unternehmen und Kapitaleigner treffen, sondern die Endverbraucher, besonders die mit kleinen Einkommen. Selbst die Beteiligung der Vermieter*innen zur Hälfte an den zusätzlichen Kosten wurde gestrichen; arme Mieter*innen müssen künftig bei Strom und Wärme sparen. Die Verantwortung für die Rettung des Planeten wird höchst ungleich verteilt. Gutsituierte sollen weiter nach Belieben konsumieren, während Geringverdiener*innen der Urlaub im Ausland und das Fleisch vom Speisezettel gestrichen wird.

Diese Form der Klimapolitik steckt in einer Sackgasse. Um die CO2-Emissionen zu vermindern, müsste sie den Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten senken - weder wünschenswert, noch realistisch. »Ein Klimaschutzgesetz, das soziale Fragen ignoriert, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt«, kommentierte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Immerhin scheint sich diese Erkenntnis auch bei den großen Umweltschutzverbänden durchzusetzen. In einer Erklärung wiesen der Paritätische und der Umweltschutzverband (BUND) darauf hin, dass das Gesetz keinen sozialen Lastenausgleich vorsieht.

Matthias Martin Becker ist Autor des kürzlich erschienenen Buches »Klima, Chaos, Kapital. Was über den Kapitalismus wissen sollte, wer den Planeten retten will« (Papyrossa, 184 Seiten, Paperback, 14,90 Euro).

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