Das schwarze Erbe von Charleston

Die beschauliche US-Hafenstadt stellt sich nur zaghaft der dunklen Historie der Sklaverei

  • Max Böhnel, Charleston
  • Lesedauer: 6 Min.

»Brrrr« ruft der Kutscher Jason seinem Gaul zu, der ein Dutzend Touristen im Schlepptau hat. Zum Glück ist das vierrädrige Gefährt mit einer Plane überdacht, die gegen die sengende Mittagssonne schützt. »Ok, move on, buddy«, fährt Jason fort. Die Straße ist frei, das Einbiegen nach links jetzt, wo ein Auto Vorfahrt hatte, für das gemächliche Zugpferd kein Problem mehr. Die einstündige Tour durch das historische Viertel von Charleston kann beginnen. »Wir sind für unsere ungewöhnliche Architektur berühmt«, erläutert Jason und deutet auf die Häuserzeile rechts. »Fast die Hälfte unserer Häuser sind in diesem Stil erbaut worden, dem sogenannten Charleston Single House«. Sie sind alleinstehend, haben jeweils nur eine Zimmerbreite, und die Eingangstür führt nicht in das Hausinnere hinein, sondern zur Veranda hin. »Wir nennen sie Piazza, und die Piazza ist immer nach Süden oder Westen hin ausgerichtet. Denn von dort kommen die kühlen Brisen.«

Wegen seiner Architektur gehört Charleston zu den meistbesuchten Städten der USA. Die Corona-Pandemie führte zwar zu einer Zäsur. Aber allmählich nimmt die Reisetätigkeit wieder zu. Die historischen Kutschentouren der sechs Kleinunternehmen, die mehrmals pro Tag durch die Viertel auf der Halbinsel starten, sind wieder ausgebucht. Die Wohnhäuser, öffentlichen Gebäude und Gärten, die einst Kaufleute und Plantagenbesitzer im 18. und 19. Jahrhundert bauten und anlegten und Südstaaten-Charme versprühen, sind so gut erhalten und restauriert worden, dass man sich nicht in einer typischen Stadt in den USA wähnt.

Jason bringt den Gaul vor einem Friedhof zum Stehen. »Dort ist unser berühmtester Politiker begraben«, weist er nach vorne, »John C. Calhoun, 1850 gestorben, zweimal Vizepräsident der USA und 20 Jahre lang unser Senator aus South Carolina.« Es wird still in der Kutsche, als Jason trocken sagt: »Vor Calhoun hieß es oft, die Sklaverei sei ein notwendiges Übel gewesen. Aber er prägte dann den Satz, sie sei eine gute Sache.« Kaum eine andere Stadt in den USA ist so sehr mit der Sklaverei verbunden wie Charleston. In ihrem Hafen setzten Zehntausende von Afrikanern ihren angeketteten Fuß zum ersten Mal auf den Boden des Landes. Rund 40 Prozent der versklavten Afrikaner kamen hier an und wurden dann weiter auf die Plantagen gebracht, die den Besitzern hohe Einnahmen garantierten.

Jetzt erhält das unbeschwerte Südstaaten-Flair, das die ersten 20 Minuten der Kutschentour prägte, einen Dämpfer. Jason fährt fort: »Eine große Straße ist nach Calhoun benannt. Und wenn man vor acht Monaten in unsere Stadt kam, dann hätte man eine 12 Meter hohe Statue von ihm sehen können, die 124 Jahre hier stand.« Abgerissen wurde sie auf Druck der Black-Lives-Matter-Bewegung und auf einhelligen Beschluss des Stadtrats von Charleston. Calhoun war Sklavenhalter. Seine Statue befand sich nur eine Häuserzeile von der Mother Emanuel Church entfernt. Dort hatte 2015 ein Rechtsextremer neun schwarze Menschen beim Gebet erschossen.

Der Kutscher Jason ist darum bemüht, die Beklemmung der Touristen zu lockern. Woher der Reichtum der Stadt gekommen sei, fragt er rückwärts blickend in die Gruppe. »Ich gebe euch einen Tipp, es waren zwei Pflanzen, und es waren weder Baumwolle noch Tabak …« Auf die fragenden Blicke entgegnet er: »Reis! Um 1720 herum bestand die Hälfte der Exporte aus der Stadt aus Reis. Und die Zweite? Indigo. Das Indigoblau wurde wenige Jahre später in die ganze Welt exportiert.« Dass die Basis für den erwirtschafteten Reichtum in Wirklichkeit in der unbezahlten Arbeit von Sklaven lag, kommt in der Erzählung des Touristenführers nicht vor.

Immerhin, sagt der in Charleston aufgewachsene Historiker Steve Estes, werde bei solchen von der Stadt genehmigten Touren überhaupt auf das dunkle Kapitel von Charlestons Historie hingewiesen. Das sei nicht immer der Fall gewesen. Die Erhaltung der Architektur, ursprünglich ein Ansinnen der weißen Eliten, habe die dunkle Seite der Stadt - die Sklaverei - nicht mehr verdecken können. »Viel zu lange ist mit der Nostalgie vom sogenannten alten Süden herumgespielt worden«, klagt Estes. Die Verklärung der Südstaatengeschichte sei nicht zuletzt in Filmen erfolgt und damit gefestigt worden, etwa mit »der Zurschaustellung von blütenweißen Reifröcken, minzgesüßtem Bourbon oder Mondlicht und Magnolien«.

In den vergangenen zehn Jahren aber habe es Veränderungen gegeben, etwa auf den Plantagen außerhalb von Charleston, die jahrzehntelang als Filmkulissen herhielten und verheerende Geschichtsauffassungen vermittelten. Mittlerweile wird an solchen Orten nicht nur auf das Idyllische geschaut. Die berühmten Plantagen Drayton Hall und Magnolia bieten beispielsweise historische Führungen in die ehemaligen Sklavenunterkünfte an und scheuen sich nicht, einen kritischen Blick auf die Geschichte zu werfen. Gleichwohl lässt sich Spaßtourismus wie der Kutschfahrt in Charleston und in seiner Umgebung noch immer mühelos so gestalten, dass die »Ursünde Amerikas« weitestgehend ausgespart bleibt. Durch das palmenreiche grüne Reichenviertel an der Südspitze der Halbinsel am Atlantik entlangzuflanieren, erhärtet noch immer den Eindruck vom »besonders europäischen« und eleganten Südstaatencharm der Stadt. Das »Old Slave Mart«-Museum, das sich ausschließlich der Geschichte der Sklaverei widmet, ist im Vergleich zu jeder einzelnen Antebellum-Villa geradezu unsichtbar.

Dabei verlangt die Aufarbeitung der Geschichte eigentlich nach dem Gegenteil. Denn Charleston boomte 200 Jahre lang vor allem wegen der Sklavenwirtschaft. Die ehemalige Hafenstelle namens Gadsdens’ Wharf ist besonders geschichtsträchtig. Hier war die Anlegestelle der Sklavenschiffe. Hier soll im kommenden Jahr das International African American History Museum eröffnet werden. Sein Bildungsauftrag: afroamerikanische Geschichte inklusive der Sklaverei sichtbar machen.

Laut einer Umfrage des Southern Poverty Law Center, der größten antifaschistischen Organisation in den USA, hat die große Mehrzahl der Lehrkräfte in South Carolina zwar kein Problem damit, im Unterricht die Sklaverei zu behandeln. Aber 58 Prozent von ihnen sind der Meinung, das Lehrmaterial dazu sei allzu oberflächlich und kaum dafür geeignet. Und nur einer von zehn Oberstufenschülern konnte die Sklaverei als Hauptgrund für den amerikanischen Bürgerkrieg benennen.

Mit dem mehr als 100 Millionen Dollar teuren Projekt verknüpfen die Stadtoberen nicht nur mehr Bildungsmöglichkeiten, sondern auch mehr Einnahmen aus dem Tourismus. Sie rechnen vor allem mit afroamerikanischen Besuchern. Denn ein Schwerpunkt des Museums wird sich der Familiengeschichte vor 1870 widmen. Dies war nämlich ein Wendepunkt, an dem ehemalige Sklaven sowohl mit ihrem Vor- und Familiennamen von den Behörden erfasst worden waren. Wissenschaftler der Universität von South Carolina berechneten in einer Studie, dass fünf Prozent mehr afroamerikanische Touristen rund 118 Millionen Dollar im Jahr in die Kassen der Stadt fließen lassen. Das wäre auch kulturell ein gewaltiger Fortschritt, denn Charleston selbst ist nämlich eine Stadt, in der vor allem Weiße leben, und auch unter den Besuchern sind bislang nur wenige Afroamerikaner.

Vermutlich wird das geplante Museum am strukturellen Rassismus in der Stadt kaum was ändern. Der Kontrast zwischen dem reichen Charleston auf der Halbinsel und dem nördlich gelegenen Gürtel schwarzer Wohngebiete fällt auf dem Weg zum Flughafen ins Auge. Wer nicht ein Taxi über die Autobahn, sondern den langsameren Stadtbus durch die Ortschaften nimmt, sieht die ärmlichen Hütten und heruntergekommenen Vierteln, die an Slums erinnern. Das Museum mag zwar ein Symbol für alle Afroamerikaner sein, aber die dort lebenden Menschen werden davon vermutlich kaum Vorteile haben.

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