- Politik
- Afghanistan
Taliban auf dem Vormarsch
Afghanistans Präsident spielt die Geländegewinne der Islamisten herunter, währenddessen erreichen diese Zentralasiens Grenzen
Sie verhandeln mit Russland über militärische Hilfe und bauen die Kontrolle ihrer Grenzen aus: Seit der Ankündigung des US-Rückzugs aus Afghanistan tüfteln die zentralasiatischen Staaten an Strategien, um sich vor Gewalt und Chaos aus dem südlichen Nachbarland Afghanistan zu schützen.
Doch die Zeit für Überlegungen ist nun vorbei. Lange vor dem Abschluss des amerikanischen Truppenrückzugs stehen die Taliban längst an der Schwelle zu Zentralasien.
Am vergangenen Dienstag eroberte die islamistische Gruppierung den wichtigsten afghanischen Grenzübergang zu Tadschikistan in Schir Khan Bandar. 100 Regierungssoldaten kamen dabei ums Leben, 134 kabultreue Kämpfer flohen vor der Offensive über eine mit amerikanischen Geldern errichtete Brücke nach Tadschikistan. Man habe die Flüchtenden aus einem Gefühl von »Humanismus und guter Nachbarschaft« aufgenommen, ließ das tadschikische Verteidigungskomitee verlauten. Ob die tadschikischen Grenzposten überhaupt eine Wahl hatten, blieb unklar.
Einen Tag später - und nur rund 170 Kilometer entfernt - überschritten 53 kabultreue Militärs die Grenze zu Usbekistan. Im Gegensatz zu Tadschikistan schickte das usbekische Außenministerium die Kämpfer nach Verhören über die Umstände des Grenzübertritts umgehend zurück. »Jeder Versuch, illegal in usbekisches Territorium einzudringen, wird strikt unterdrückt«, heißt es in einer Pressemeldung des Ministeriums.
Vom Vormarsch der Taliban in Afghanistans Norden zeugen auch die Kämpfe um die afghanische Provinzhauptstadt Kundus. Seit der vergangenen Woche wird die 300 000-Einwohner-Stadt von radikalislamischen Kämpfern belagert, etwa 5000 Familien sind bereits aus der gleichnamigen Provinz geflohen. Die afghanische Armee rechnet mit einer Offensive auf die Stadt, in der die abziehende Bundeswehr lange für die Stabilisierung zuständig war.
Inmitten des Vormarschs der Taliban und der zunehmenden Instabilität im Norden Afghanistans flog Staatschef Aschraf Ghani am vergangenen Freitag zu Gesprächen mit US-Präsident Joe Biden nach Washington. Bei dem Treffen im Weißen Haus spielte der afghanische Präsident die Geländegewinne der Islamisten herunter. Regierungstruppen hätten allein am Freitag sechs Bezirke im Norden und Süden des Landes zurückerobert, behauptete Ghani. Damit hätte die afghanische Armee die kürzlichen Erfolge der Taliban-Kämpfer zunichte gemacht. »Sie werden sehen, dass wir mit Entschlossenheit, mit Einheit und mit der Partnerschaft alle Widrigkeiten überwinden werden.« Interne US-Geheimdienst-Berichte zeichnen ein anderes Bild: Demnach könnten die Taliban die Hauptstadt Kabul schon innerhalb von sechs Monaten nach dem Abzug der US-Truppen einnehmen.
Biden sicherte auch für die Zeit nach dem US-Truppenabzug weitere Unterstützung seines Landes zu, zerschlug jedoch jegliche Hoffnungen auf eine eventuelle Verzögerung des amerikanischen Rückzugs. Afghanistan müsse nun selbst Verantwortung übernehmen. »Die Afghanen werden über ihre Zukunft entscheiden müssen, darüber, was sie wollen«, erklärte der US-Präsident. Dass dies wirklich gelingt, erscheint allerdings äußerst fraglich. Seit Monaten verlaufen die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der Zentralregierung ohne greifbare Ergebnisse. Der US-Präsident räumte ein, dass ein Ende der Gewalt »sehr schwierig« werde.
Auch Moskau zeigt sich angesichts der eskalierenden Gewalt zunehmend beunruhigt. Vor allem die Lage an der etwa 1300 Kilometer langen tadschikisch-afghanischen Grenze - der längsten Trennlinie zwischen Afghanistan und einem postsowjetischen Land - bereitet dem Kreml Sorgen. »Tadschikistan ist ein sehr enger und partnerschaftlicher Staat«, erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow angesichts der Entwicklungen in der vergangenen Woche. »In der Tat sind das Entstehen eines neuen Spannungsherdes und die Bedrohungen etwas, das uns Sorgen macht.«
Mit der prekären Sicherheitslage in der Region beschäftigte sich Ende vergangener Woche auch die von Russland und China geführte Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) auf einer Tagung in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe. Die Stabilität in Zentralasien hänge von der Situation in Afghanistan ab, erklärte der tadschikische Premier Kochir Rasulsoda, der einen Mechanismus zur schnellen Reaktion auf Bedrohungen aus Afghanistan anregte.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.