Hoffen auf ein Weltgericht

Das Haager Tribunal verurteilte Kriegsverbrecher auf dem Balkan. Täter anderer Länder gehen straffrei aus

  • René Heilig
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Leid, das in den sogenannten jugoslawischen Bürgerkriegen angerichtet wurde, reicht für Generationen. In jeder Volksgruppe. Jovica Stanišić und Franko Simatović sind Männer, die ein Gutteil dieses Leides zu verantworten haben. Die beiden ehemaligen serbischen Geheimdienstchefs waren im Mai 2003 vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal angeklagt. Man warf ihnen vor, dass sie in Bosnien-Herzegowina und Kroatien ethnische Säuberungen befohlen und geleitet haben.

Unmenschlichkeit und Mord waren dabei alltäglich. Zehn Jahre nach der Zulassung der Anklage befand die zuständige Strafkammer mehrheitlich, dass man Stanišić und Simatović nicht für die Teilnahme an solchen Verbrechen verantwortlich machen kann. Konsequenz: Freispruch in allen Anklagepunkten. Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, das Urteil wurde kassiert und eine neue Verhandlung angesetzt. Die begann im Juni 2017. Man hörte gut 50 Zeugen. Pro und wider die Angeklagten. Für Mittwoch ist ein neuer Urteilsspruch angekündigt.

Genau genommen wird die Entscheidung gar nicht vor dem International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY) ausgesprochen. Das war bereits Ende 2017 aufgelöst worden. Nach knapp 25 Jahren intensiver Arbeit. Installiert hatte man das Tribunal auf Grundlage der Resolutionen 808 und 827 des UN-Sicherheitsrates in einem alten Versicherungsgebäude in Den Haag. Es sollte vor allem die in Bosnien-Herzegowina verübten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnden, die von der Uno als »Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit« eingestuft wurden. Während diese beiden Resolutionen darauf abzielten, die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit von Tätern zu ermitteln und Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, hegte man bei den später ergangenen Resolutionen 1503 und 1534 die Erwartung, dass das Tribunal zu dauerhaftem Frieden, zu Sicherheit und zu Versöhnung beitragen kann.

Die Bilanz des ICTY enthält 83 Schuld- und 19 Freisprüche. 13 Angeklagte wurden an andere Gerichte überstellt. Es gab eine Handvoll Freisprüche und Zurückweisungen der Anklage. Um aber alle Ende 2017 noch schwebenden Verfahren und Berufungen seriös behandeln zu können, wurde eine Nachfolgeinstitution beschlossen. Vor diesem 2010 gegründeten »International Residual Mechanism«, der sich auch um Haftentlassungen, Hafterleichterungen, um die Medien- und andere Arbeiten kümmert, müssen auch die beiden serbischen Ex-Geheimdienstchefs für ihre Taten einstehen. Ihre Fälle sind angeblich die letzten noch zu lösenden.

Das lässt die Frage aufkommen, ob diese beiden Justizorgane die hohen Erwartungen erfüllt haben, die man an sie stellte. Immerhin war das ICTY das erste internationale Tribunal seit dem Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg (1945) und dem Internationalen Militärgerichtshof für den Fernen Osten in Tokio (1946). Mit einem Unterschied, den der russische Diplomat Juri Woronzow - bei den Behandlungen der Resolutionen war er Chef des UN-Sicherheitsrates - erklärte: »Zum ersten Mal in der Geschichte richten nicht die Sieger über die Besiegten.« Stattdessen urteile die gesamte internationale Gemeinschaft.

Ein neues Kapitel im Völker- und Strafrecht sollte aufgeschlagen werden. So die Hoffnung. Als Unterorgan der Uno griff man - und das war ein wichtiges völkerrechtliches Novum - direkt in staatliche Souveränität ein. Von Anfang an sprachen die so betroffenen Staaten dem Tribunal daher die Rechtmäßigkeit ab und verweigerten die Kooperation mit ihm. Gleichsam als Handicap der juristischen Aufarbeitung erwies sich auch die mangelnde Akzeptanz in allen Teilen der Bevölkerung. Denn die meisten Täter waren bekannt. Sie waren ehemalige Freunde, Verwandte, Nachbarn, Vorgesetzte und Untergebene.

Insgesamt stand die internationale Staatengemeinschaft unter großem Druck. Denn zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg wurden mitten in Europa Massenmorde begangen. Derartiges sollte nie wieder möglich sein, hatte man nach den Nürnberger Prozessen geschworen. Das UN-Tribunal hatte die Kompetenz, höchste Amtspersonen wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen. Staatsoberhäupter, Regierungsmitglieder, Parteiführer und Generäle, also die wirklich Verantwortlichen für die Verbrechen, sollten nicht länger straffrei bleiben.

Das Jugoslawientribunal hat gewiss Pionierarbeit zur Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts und des internationalen Strafrechts geleistet. Es stand Modell für die Errichtung des internationalen Straftribunals zur Verfolgung der Massenmorde in Ruanda, für das gemischte Tribunal für Sierra Leone und für die Schaffung des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs.

Unabhängigkeit und politische Neutralität waren hohe Güter in den Büros der Ermittler. Man musste beides verteidigen gegen verschiedene politische Absichten der Weltmächte. Denn mit der in den 1990er Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges demonstrierten weltweiten Einigkeit wider das Unrecht war es bald vorbei.

Das weiß kaum jemand besser als Serge Brammertz. Der 59-Jährige trat 2008 als Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für Ex-Jugoslawien die Nachfolge der kämpferischen Schweizer Juristin Carla Del Ponte an. Seit Februar 2016 leitet der Belgier die Nachfolgeorganisation des Kriegsverbrechertribunals. In seiner Tribunal-Zeit hatte es Brammertz unter anderem mit dem Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, und dessen General Ratko Mladić zu tun. Sie wurden zu lebenslanger Haft verurteilt.

Doch dass die beiden und zahlreiche andere »Volkshelden« überhaupt vor ihren Richtern in Den Haag erscheinen mussten, hat wenig mit der Aufarbeitung der Verbrechen in den Gebieten zu tun, in denen sie begangen wurden, weiß Brammertz. Pragmatismus ist der Grund. Eine mögliche und zum Teil bereits vollzogene Integration in die EU ist vielen Verantwortlichen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens wichtiger als ein weiterer Schutz der Kriegsverbrecher.

»Die Realpolitik spielt bei allen internationalen Gerichten eine wichtige Rolle«, erklärte Brammertz jüngst in einem Interview mit der »Welt«. Darin bedauerte er es, dass es kein Weltgericht gibt, das für alle Länder der Vereinten Nationen verantwortlich ist. Undenkbar, dass der UN-Sicherheitsrat - der sich bei jeder aktuellen Krise zerstreitet und ob des Veto-Rechts der ständigen Mitglieder gemeinsames politisches Handeln unmöglich macht - heute dem Schutz von Menschenrechten so viel Aufmerksamkeit zugesteht wie bei der Einsetzung des Jugoslawien-Tribunals.

Und so bleiben die in Syrien, Myanmar, Jemen, Libyen und vielen anderen Staaten verübten Verbrechen ungesühnt. Die Uno als Vertreterin der Weltgemeinschaft hat ihre juristische Autorität verspielt. Auch der Internationale Strafgerichtshof, von dem man hoffte, dass er universelles Recht weltweit durchsetzt, ist viel zu schwach. Ihm fehlen so wichtige Mitglieder wie die USA, China, Russland, Indien, Israel, Iran und fast alle arabischen Staaten. So ist Straffreiheit für Kriegsverbrecher heute wieder die Regel und strafrechtliche Verfolgung die Ausnahme. Washington droht sogar damit, dass man eigene Staatsbürger, so sie angeklagt werden, »rausholen« würde.

Umso wichtiger werden sogenannte Drittländer, die das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht nutzen. Danach können Menschenrechtsverletzungen unabhängig vom Tatort geahndet werden. In Deutschland, Belgien und Frankreich gibt es solche Bemühungen. Doch sie sind freilich - ganz abgesehen von der politischen Bedeutung - nicht vergleichbar mit der Arbeit eines UN-Tribunals, dem zeitweise 500 Mitarbeiter aus über 60 Ländern angehörten. Diese Polizisten, Analysten, Juristen, Historiker und Dolmetscher trugen auch vor Ort Beweismaterial zusammen und befragten Zeugen. Man konnte Regierungen ebenso wie Geheimdienste und Militärs einspannen.

»Ich habe niemals mit den Opfern geweint«. Carla Del Ponte reflektiert über ihre Zeit als UN-Chefanklägerin gegen Kriegsverbrecher

Derartige Möglichkeiten hatte das Oberlandesgericht Karlsruhe natürlich nicht, als es zu Jahresbeginn einen in Deutschland lebenden Syrer verurteilt, der als Folterknecht erkannt worden war. Zu hoffen, dass auf diese Weise Völker- und Strafrecht eine beispielhafte Wirkung erzeugen und verhindern, dass Teile der Welt weiter von Verwesungsgeruch überzogen werden, ist abwegig.

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