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Zerstückelt und zur Halbkolonie degradiert
Bosnien und Herzegowina steht weiter unter der Vormundschaft von Europäischer Union und USA. Auch andere Mächte verfolgen im früheren Jugoslawien Interessen
Am heutigen Mittwoch werden in Den Haag die Urteile über die Ex-Geheimdienst-Offiziere Jovica Stanišić und Franko Simatović gesprochen. Es werden wohl die letzten Richtersprüche im Zusammenhang mit der juristischen Strafverfolgung wegen der blutigen Zerfallskriege in den jugoslawischen Republiken Bosnien-Herzegowina und Kroatien Anfang der 1990er-Jahre sein. Das Resultat dieser im Sinne der Siegerjustiz betriebenen Gerichtsbarkeit war erwartbar und ist doch ernüchternd.
Der Westen hat sich des zum Jahresende 2017 offiziell geschlossenen Jugoslawien-Tribunals bedient, um die eigene Verantwortung zu vertuschen und Serbien einseitig als Aggressor zu brandmarken. Dabei blieb die Gerechtigkeit auf der Strecke, Versöhnung wurde verhindert und daran anknüpfend der Wiederaufbau der zerstörten Gesellschaften unmöglich gemacht. Gerade Bosnien leidet seit dem 1995 geschlossenen Abkommen von Dayton unter einer paternalistisch kolonialistischen Bevormundung durch die Europäische Union und die Vereinigten Staaten.
Dazu trägt die Zerstückelung Bosniens bei. Das Land ist in zwei Entitäten geteilt: Die vorwiegend von Serben bewohnte Republika Srpska und die bosniakisch-kroatische Föderation, die wiederum in zehn Kantone gegliedert ist; zudem verwaltet sich der Brčko-Distrikt selbst. Auf allen Ebenen gibt es eigene Parlamente und Regierungen, ein bürokratischer Apparat, der oftmals gegen die Menschen arbeitet und von den herrschenden Eliten dazu genutzt wird, sich selbst zu bereichern.
Mit dem Krieg und der damit einhergehenden Zerschlagung des Sozialismus wurden weite Teile der bosnischen Industrie geschleift. Die Folge ist die Verelendung der Bevölkerung. 73 Prozent der Arbeiter leben in relativer Armut, sie verdienen weniger als 400 Euro im Monat, wie die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung im vergangenen Jahr in einem Report dokumentierte. Ein durchschnittlicher Lohn von gerade einmal 415 Euro deckt nicht einmal die Hälfte des von den Gewerkschaften errechneten Verbraucherkorbs. Die Arbeitslosigkeit ist mit mehr als 20 Prozent hoch, fast die Hälfte der Jugend ist ohne Anstellung, so die FES. Der soziale Druck entlud sich 2014 in einer Protestbewegung, die ihren Ausgang in der Bergarbeiterstadt Tuzla nahm.
Doch Veränderungen konnte der Aufstand nicht bewirken - auch aufgrund der westlichen Kontrolle des Landes. Der Niederlage der Protestbewegung folgten Resignation und Abwanderung. Wer kann, und das sind vor allem gut Ausgebildete und Junge, verlässt Bosnien und sucht das Glück im Ausland. Seit Ende des Krieges sank die Bevölkerung um mehr als 400 000 Einwohner auf rund 3,3 Millionen. Allein zwischen 2014 und 2018 haben laut statistischen Erhebungen rund 170 000 Bürger das Land verlassen. Davon profitiert hat unter anderem auch die Bundesrepublik, die mit den Migranten einen Teil des Mangels an Pflegekräften ausglich.
Das deutlichste Symbol dieser kolonialen Struktur ist der Hohe Repräsentant (OHR). Er soll über die Umsetzung des Dayton-Abkommens wachen, ausgestattet ist er mit weitreichenden Befugnissen. Ohne eine demokratische Legitimation kann er Gesetze und Verordnungen bosnischer Institutionen streichen und sogar eigene erlassen. Außerdem ist er berechtigt, gewählte Amtsträger abzusetzen. Eine eigenständige Politik, abseits des OHR, ist nicht möglich und vom Westen nicht gewollt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die demokratischen Strukturen am Boden liegen. Zuletzt dauerte es auf nationaler Ebene 14 Monate, bis eine neue Regierung gebildet war.
Seit 2009 bekleidete der österreichische Diplomat Valentin Inzko den Posten des Hohen Repräsentanten. Im Sommer hört er auf, ihm folgt ab 1. August der CSU-Politiker Christian Schmidt. Er wurde Ende Mai auf der Sitzung des Friedensimplementierungsrates bestimmt, doch diesmal wurde kein Konsens gefunden: Russland votierte gegen den ehemaligen Bundeslandwirtschaftsminister, der auch Mitglied des die Wehrmacht verklärenden Kameradenkreises der Gebirgstruppe ist. Moskau zeigte sich anschließend enttäuscht, dass von dem üblichen Vorgehen abgewichen wurde, und erklärte, Schmidt fehle die notwendige internationale Legitimation für die Ausübung des Postens, wenn nicht der UN-Sicherheitsrat ihn bestätige. Deswegen lehnen auch die Vertreter der Republika Srpska eine Zusammenarbeit ab.
Schmidts Ernennung zeigt das gewachsene deutsche Interesse an der Region. Dort konkurriert die EU-Hegemonialmacht indes auch mit anderen Staaten. Bezug nehmend auf die jahrhundertealte osmanische Geschichte auf dem Balkan, versucht die Türkei, sich als Schutzmacht der muslimischen Bevölkerung zu präsentieren, mit dem Ziel, dort gute Geschäfte zu machen und ihren Einfluss auszubauen. Auch Länder wie Saudi-Arabien und der Iran sind darum bemüht, ihre Auslegung des Islams in Bosnien zu verbreiten.
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Für Missfallen des Westens sorgt indes vor allem, dass Russland und China gute Beziehung zur Republika Srpska pflegen. Moskau ist wegen des gemeinsamen christlich-orthodoxen Glaubens mit Banja Luka verbandelt, China interessiert sich für den Aufbau von Infrastruktur- bzw. Energieprojekten. Dieses Engagement zurückzudrängen, hat sich die Bundesrepublik auf die Fahne geschrieben. Man werde »weiterhin vollen Einsatz zeigen, damit Bosnien und Herzegowina die erforderliche internationale Aufmerksamkeit erfährt«, hieß es am 27. Mai aus dem Auswärtigen Amt nach der Ernennung Schmidts. Dabei kann sich Berlin seit der Amtsübernahme durch Joseph Biden der Unterstützung Washingtons gewiss sein. Für die Menschen und die Demokratie in Bosnien heißt das alles indes nichts Gutes, das Land wird auf absehbare Zeit eine Kolonie des Westens bleiben.
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