Plötzlich aufgewacht als »Sorgenkind«

Werner Wolff vergleicht die Situation von Schwerbehinderten der DDR mit denen in der Bundesrepublik

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 4 Min.

Was ist seit der Wende nicht alles besser geworden für die körperlich Schwerbehinderten in Ostdeutschland! Barrierefreiheit ist nicht überall durchgesetzt, aber im Vergleich zur DDR-Zeit beachtlich fortgeschritten. Technische Hilfsmittel auf einem weitaus höheren Niveau, mehr Medikamente stehen ihnen zur Verfügung. Ihre Wohnsituation hat sich - insgesamt gesehen - deutlich verbessert. Kann man vor diesem Hintergrund sagen, dass die meisten, zumindest aber sehr viele Behinderte in den neuen Bundesländern sich als Verlierer der Einheit fühlen müssen? In seinem Buch »Inklusion statt ›Sorgenkind‹« erhebt der Leipziger Autor Werner Wolff diesen Vorwurf. Als Betroffener und mit der Thematik Befasster listet er auf, was aus der Perspektive körperlich Behinderter wesentlich ist im Vergleich der DDR mit der alten Bundesrepublik wie auch im Vergleich zu dem, was sich seit 1990 in diesem Bereich vollzogen hat.

Natürlich äußert er sich klar zu der üblichen Darstellung, der zufolge Behinderte in der DDR »versteckt«, »nicht vorgesehen« oder »eine Beleidigung für die SED« (MDR) gewesen seien. Laut »Spiegel« habe es im ostdeutschen Staat »keinen Platz für Menschen mit Behinderung« gegeben. Wolff spricht von einer »wahrheitsfernen Polemik«. Der Doktor der Physik und bis zum Eintritt in das Rentenalter 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Leipzig, weist darauf hin, dass die Rechte Behinderter seit 1968 in der DDR Verfassungsrang besaßen. Artikel 36: »Jeder Bürger der DDR hat das Recht auf Fürsorge der Gesellschaft im Alter und bei Invalidität«. Dies galt schon Jahrzehnte bevor sich der bundesdeutsche Staat ebenfalls dazu bequemte. In Artikel 25 der DDR-Verfassung hieß es weiterhin: »Für Kinder und Erwachsene mit psychischen und physischen Schädigungen bestehen Sonderschul- und Ausbildungseinrichtungen.« Als Anfang der 50er Jahre in Birkenwerder bei Berlin die Internatsschule für behinderte Kinder geschaffen wurde, war damit laut Wolff eine weltweit einmalige Einrichtung eröffnet. Behinderte genossen in der DDR einen hohen Schutzstandard. Jeder, der dazu in der Lage war und dies wünschte, fand Arbeit, was die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben bot. Natürlich immer, so weit dies der Charakter der Behinderung zuließ.

Rund 600 000 Behinderte arbeiteten laut Wolff 1989 in regulären Betrieben und Dienststellen der DDR. Stark leistungsgeminderte Menschen nutzten geschützte Werkstätten. »Man traf sie auf Schulwegen, unterwegs zur Arbeit oder zu Hause. Und im Arbeitsleben sah man sie als Bibliothekare, Lehrer, Ingenieure, Justiziare, Handelskaufleute, Biologen, Direktoren. Man begegnete ihnen in Theatern, Kinos, Ausstellungen, Turnhallen und an Badestränden.« Gar nicht viele geistige Drehmomente sind nötig, um wie Werner Wolff sachlich festzustellen: »So gesehen entsprachen die in den Produktionsbetrieben der DDR für diese Behindertengruppen geschaffenen geschützten Abteilungen und Einzelarbeitsplätze bereits vor über 40 Jahren jenem Inklusionsmodell, das Jahrzehnte später, 2008, in der UN-Behindertenrechtskonvention als weltweites Ziel vereinbart wurde.«

Diesen Schutz verloren Ostdeutsche mit dem Beitritt zur BRD, was Wolff, Behindertenvertreter des Leipziger Universitätsklinikums und langjähriger Stellvertreter der Hauptschwerbehindertenvertretung am Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst bis 2007, selbst erfahren musste. Die unmittelbar einsetzende Massenarbeitslosigkeit traf gerade diese Menschen besonders hart. Im Juni 1990 meldete die Statistik knapp 2500 arbeitslose Behinderte, 1993 waren es fast 29 000! Eine Rückkehr ins Berufsleben erschien selbst jüngeren Behinderten zumeist aussichtslos. Es blieb einem großen Teil von ihnen nichts anderes übrig, als sich »invalide« schreiben zu lassen, was sie ausstieß aus der Gruppe jener Menschen, die für sich selbst sorgen konnten.

Während die volkseigenen Betriebe (VEB) vor 1990 zur Aufnahme von zehn Prozent Versehrten verpflichtet waren (was dem Anteil Behinderter in der Gesellschaft entspricht), wurde eine ähnlich lautende Vorschrift im 2002 novellierten Behindertenrecht der Bundesrepublik von sechs auf fünf Prozent abgesenkt. Durch den Beitritt zur BRD wurden ostdeutsche Behinderte, was sie zuvor nicht waren: Sorgenkinder. Sie bekamen einen Stempel aufgedrückt, den ihre Brüder und Schwestern im Westen schon lange zu tragen hatten. Die seit 1964 ausgestrahlte Fernsehspendengala »Aktion Sorgenkind« (seit 2000 »Aktion Mensch«) war als Reaktion auf die seit 1957 über 5000 contergangeschädigt geborenen Kinder zustande gekommen. »Das westdeutsche Bild betonter Schicksalsschwere schwerbehinderten Daseins als ›Sorgenkind‹ war in der DDR fremd bis unerwünscht«, so Wolff. Wenn der mediale Blick auf Behinderten ruhte, dann wurden sie »nicht als spezieller Kostenfaktor und gesellschaftliche Last markiert«. In Film, Fernsehen und Presse der DDR »erlebte man sie natürlich, unspektakulär, ohne unnötige Leidensbetonung und oft in gemeinschaftshomogener Lebensdarstellung«.

Die Arbeit von Werner Wolff bietet eine reiche Materialsammlung zum Thema. Beleuchtet werden die Umstände der Abschaffung von Ferienlagern und der Kinder- und Jugend-Spartakiade für Behinderte sowie die der Vereinigung der Versehrtensportverbände Ost und West. Vergessen wurde nicht der unterschiedliche Umgang mit den »Euthanasie«-Morden der Nazis. Das Buch ist in einer Sachlichkeit abgefasst, die wohl zum besten Erbe aus der DDR gehört.

Werner Wolff: Inklusion statt »Sorgenkind«. Schwerbehinderte in der DDR, mit Vergleichen zur BRD. Nora, 188 S., br., 18 €.

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