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Rechtsstaatsdefizit mit Ansage
Vier Jahre nach den G20-Protesten in Hamburg wurde noch immer keine Anklage gegen Polizisten erhoben
Ein »Festival der Demokratie« hatte Olaf Scholz 2017 im Vorfeld des anstehenden G20-Gipfels in Hamburg versprochen. »Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist«, kündigte der damalige Erste Bürgermeister der Hansestadt und aktuelle Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat frohlockend an. Die Sätze wirken aus heutiger Sicht wie blanker Hohn, der Verlauf der Geschichte ist bekannt: Es kam vor und während des Gipfeltreffens zu massiven Grundrechtseinschränkungen und zu Polizeigewalt; die »Welcome to Hell«-Demonstration wurde wegen »Vermummung« einzelner Teilnehmer brutal zerschlagen; im Schanzenviertel gab es Barrikadenbau, Plünderungen und Brände; SEK-Einheiten waren mit Schießbefehl in der Innenstadt unterwegs. Die Sicherheitsbehörden entzogen 32 Journalisten unrechtmäßig die Akkreditierung, darunter zwei nd-Reportern.
Trotz der bereits im Vorfeld von Medien und Behörden gezeichneten Schreckensbilder kamen rund 100 000 Menschen nach Hamburg, um gegen das Gipfeltreffen zu demonstrieren - über 30 000 Polizisten sollten wiederum ebenjenes bewachen. Die Auseinandersetzungen zwischen Beamten und Demonstranten trafen wie erwartet - und für deutsche Verhältnisse relativ hart - ein, dazu gab es aber auch kreative Aktionen, friedliche Großdemonstrationen und zivilen Ungehorsam wie Blockaden. Der Protest auf der Straße war insgesamt weitaus vielfältiger und bunter als in der Berichterstattung.
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Die radikale Linke führte im Nachgang der Protesttage eine kleine Militanzdebatte. »Wegen einzelner Versuche, Geschäfte in Wohnhäusern in Brand zu setzen, entstanden Kontroversen über Kriterien von militanten Aktionen«, fasste das autonome Kulturzentrum Rote Flora jüngst diplomatisch zusammen. Ansonsten geriet die politische Aufarbeitung schnell ins Stocken. Olaf Scholz erläuterte mit seiner Losung »Es hatte keine Polizeigewalt gegeben« Ermittlern und Justiz ihre Aufgabe und machte die Position der bürgerlichen Parteien klar. Für einige Wochen entstand eine regelrechte linkenfeindliche Hysterie. nd-Kolumnist Leo Fischer sprach von »vormals Linksliberalen, die ihre Liebe zur harten Hand entdeckten«.
An der Frage, ob man neben der Gewalt der Demonstranten auch die der Polizei verurteilt und in Verantwortung nimmt, verlief dann auch die Grenze in der Bürgerschaft und Stadtgesellschaft. Die Linkspartei war dabei die einzige Partei, die auch klar die Polizeigewalt kritisierte und Aufarbeitung forderte. Eine Anfrage der Linksfraktion der Bürgerschaft zeigte dabei erst jüngst auf, dass mittlerweile 133 der insgesamt 169 Strafverfahren gegen Polizisten eingestellt wurden. Gegen keinen einzigen Beamten hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben. »Die Nichtaufklärung der Polizeigewalt während des G20-Gipfels ist leider kein Einzelfall«, kritisierte Deniz Celik, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion. Die Aufarbeitung von polizeilichen Straftaten sei laut dem Politiker generell völlig unzureichend und ende in der Regel mit der Einstellung der Verfahren. »Es ist ein erhebliches Rechtsstaatsdefizit, dass die Täter in Uniform ungestraft davonkommen«, so Celik.
Der Bürgerschaftsabgeordnete betonte, dass auch vier Jahre nach dem Gipfel die Forderung nach der Aufklärung der Polizeigewalt so »ungebrochen wie aktuell« sei. »Viele der Betroffenen leiden noch heute unter den Erfahrungen, die sie während des Gipfels machen mussten«, sagte Celik. »Ohne unabhängige Ermittlungsstellen werden die Opfer von Polizeigewalt auch weiterhin keine Gerechtigkeit erfahren.«
Anders sah der Verfolgungswille bei den Demonstranten aus. Mehrere Öffentlichkeitsfahndungen, Razzien, über 3000 Ermittlungsverfahren, die Erstellung umfangreicher Bild- und Videoarchive sowie Grundrechtsfeindliche Auslegungen des Versammlungsrechts der Staatsanwälte in Gerichtsprozessen brachten eine massive Repressionsmaschine ins Rollen. Gegen 451 Beschuldigte wurde bisher Anklage erhoben, unter anderem wegen Landfriedensbruch, Sachbeschädigung und Körperverletzung. Zum Teil wurden dabei mehrjährige Haftstrafen verhängt. Politische Selbstermächtigung durch die Protesttage und ein darauffolgender »Kater« durch die staatliche Repression lagen für viele Aktivisten fortan nah beieinander.
Die staatliche Verfolgung wie auch der solidarische Widerstand dagegen halten indes bis heute an. In zehn Städten waren Ende November 2020 Menschen gegen die Kriminalisierung von linkem Protest auf die Straße gegangen. Anlass der Aktionen unter dem Motto »Gemeinschaftlicher Widerstand« war der Beginn einer neuen Prozessserie gegen mehr als 60 Personen, die sich an den Protesten gegen den G20-Gipfel beteiligt hatten.
Seit Dezember wurde vor dem Hamburger Landgericht gegen die fünf ersten Menschen verhandelt, die damals noch nicht volljährig waren. Schon Ende Januar brachen die Richter das sogenannte Rondenbarg-Pilotverfahren wegen Corona jedoch ab. Die Solidaritätsorganisation Rote Hilfe kritisierte, dass der Prozess trotz der Pandemie überhaupt erst begonnen wurde. »Der Zeitpunkt der Eröffnung ist nicht das einzig Groteske und Skandalöse: Die Anklage stellt die Ereignisse vom 7. Juli am Rondenbarg vollkommen auf den Kopf«, erklärte damals Anja Sommerfeld vom Bundesvorstand der Roten Hilfe. In besagter Straße sei eine legitime Demonstration von der Polizei angegriffen, zerschlagen und dabei zahlreiche Demonstrierende verletzt worden. »Es ist absolut zynisch, dass nun die Angegriffenen auf der Anklagebank sitzen, während bis heute kein einziger Polizist angeklagt ist.« Wann der Prozess wieder aufgenommen wird, ist bisher unklar.
Zum vierten Jahrestag der Gipfelproteste halten linke Gruppen wie auch auch Menschenrechts- und Grundrechtsorganisationen an ihrer Kritik des staatlichen Handelns fest - und nutzen die aktuelle Aufmerksamkeit, um an diese zu erinnern: »Am 6. Juli vor vier Jahren griff die Polizei die Auftaktdemo gegen den G20-Gipfel an - sie verursachte eine Massenpanik und brachte viele Unbeteiligte, darunter Frauen und Kinder, in Gefahr«, schrieb jüngst Amnesty International. Es bliebe noch viel aufzuarbeiten.
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