Die Tour der jungen Wilden

Neue Taktik, neue Gesichter: Stilwechsel bei der Frankreich-Rundfahrt

  • Tom Mustroph, Saint-Gaudens
  • Lesedauer: 4 Min.

An blutjunge Sieger der Tour de France hat man sich ja schon gewöhnt. Egan Bernal zählte 22 Jahre, als er 2019 gewann. Tadej Pogacar gelang dies im letzten Jahr einen Tag vor seinem 22. Geburtstag. Jetzt ist der Slowene 22 - und auf dem besten Weg, die Frankreich-Rundfahrt ein zweites Mal zu gewinnen. Als ernsthaftester Herausforderer hat sich ein Tourneuling herauskristallisiert: Jonas Vingegaard, 24 Jahre alt, aus Dänemark. Vor vier Jahren jobbte er noch halbtags in einer Fischfabrik, bei einem Co-Sponsor seines damaligen Rennstalls. Jetzt lehrte er bislang als Einziger aus dem gesamten Peloton den Titelverteidiger das Fürchten.

Am Mont Ventoux trat Vingegaard an. Er riss sogleich eine Lücke. Pogacar heftete sich kurz darauf an sein Hinterrad, musste aber abreißen lassen. »Ich hatte keine Kraft zu folgen. Ich musste dann erst meinen eigenen Rhythmus finden«, sagte der Slowene. Es war der klassische Ausspruch der Verlierer. Ungewohnt war es, ihn aus Pogacars Mund zu vernehmen. Denn wenn es in die Berge geht, ist er gewöhnlich nicht mehr aufzuhalten. Er konnte sich jedoch schnell trösten: Auf der Abfahrt fing er Vingegaard noch ab.

Aber die mutige Aktion des Dänen unterstreicht einen Mentalitätswandel im Peloton. Es wird nicht mehr lange gefackelt, sondern lieber attackiert. Das ist auch Pogacars Devise. In den Alpen holte er auf diese Weise das Gelbe Trikot. Er wartete auch nicht auf den letzten Anstieg, sondern nutzte den vorletzten Gipfel. Er hatte keine Scheu vor einer Solofahrt über 30 Kilometer.

Das ist neu - und zugleich eine Rückkehr zum Modus der 60er und 70er Jahre. Erst in den letzten zwei Dekaden, in den Dominanzzeiten von Lance Armstrong und des Rennstalls Sky/Ineos, wurde es Mode, den Toursieger in einer Art Ausscheidungsfahren auszufahren. Der Bergzug gibt das Tempo vor, dünnt die Konkurrenz aus, im letzten Drittel des letzten Anstiegs tritt der Kapitän bei ideal vorbereitetem Tempo aus dem Schatten der Adjutanten - und vollendet als Solist. Bis auf wenige Ausnahmen bei Armstrong und Chris Froome war dies das Muster.

Auch der designierte Nachfolger Primoz Roglic und dessen Team Jumbo-Visma folgten bis zum sturzbedingten Ausscheiden des älteren Slowenen bei dieser Tour in ihrer taktischen Ausrichtung diesen Grundzügen. Pogacar hingegen macht das nicht. Er verfügt zum einen mit seiner UAE-Truppe nicht über diesen starken Bergzug. Zum anderen lässt sich seine Rennfahrerpersönlichkeit nicht so leicht in Schemata pressen. »Ich liebe es, zu attackieren«, betont er. »Angriff ist die beste Verteidigung« ist ebenfalls ein Spruch aus seinem Repertoire.

Vingegaard ist ähnlich gesinnt. »Ich wollte auf dem Mont Ventoux zunächst sehen, dass ich an den anderen dranbleibe. Das war der Plan. Aber dann, wenn ich in guter Verfassung bin, kann ich angreifen. Das war auch der Plan«, so der neue Leader seines Teams. Das setzt in der Situation ohne den etatmäßigen Anführer Roglic ohnehin auf die Kraft des Einzelnen. Weil der Tourdebütant Vingegaard dank seiner Fähigkeiten zwar aufs Podium kommen kann, er aber nicht, wie zuvor Roglic, muss, haben die Helfer jetzt ungewohnte Freiheiten. Wout van Aert nutzte dies zum Tagessieg auf dem Mont Ventoux, den er aus einer Ausreißergruppe heraus holte. Sepp Kuss legte einen Sieg in Andorra nach, ebenfalls aus einer Gruppe heraus.

Beispiel für den Erfolg des neuen Stils ist auch Guillaume Martin. Der 28-Jährige brachte sich durch zwei bravouröse Ausreißversuche - den einen auf der Alpenetappe nach Tignes, den zweiten in den Pyrenäen am Sonnabend - auf den zweiten Gesamtrang hinter Pogacar. Am Sonntag musste er aber seinen Anstrengungen Tribut zollen und fiel auf Rang neun zurück. Dennoch: Er belebte die Klassementssituation zumindest für 24 Stunden - und weckte bei den Franzosen die Hoffnung, dass es doch mal wieder ein Landsmann aufs Podium schaffen könnte.

Die große Intensität des Rennens schlägt sich aber auch negativ auf Körper und Geist nieder. »Wir sind alle ziemlich erschöpft. Es fühlt sich jetzt nach zwei Wochen schon an wie sonst nach drei«, gestand sogar Pogacar ein. Gut möglich, dass die zunehmende Ermüdung den Attackeeifer in der dritten Woche etwas dämpft. Denkbar ist aber auch, dass die, die trotz der allgemeinen Müdigkeit noch attackieren, mit großem Vorsprung belohnt werden. Denn denen, die hinterherfahren müssen, schwinden ja ebenfalls die Kräfte.

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