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Plauderei auf hohem Niveau
Ein Berufspolitiker und ein Staranwalt diskutieren den Rechtsstaat: Egon Krenz und Friedrich Wolff
Was ist das denn für ein Buchtitel: »Komm mir nicht mit Rechtsstaat«. Provokation? Ironie? Sarkasmus? Unterstellung? Oder empirische Erkenntnis? Titel wie Inhalt dieses Buches werden gewiss nicht wenige in der sich gern und stolz als lupenreiner Rechtsstaat deklarierenden Bundesrepublik Deutschland gut situiert lebenden Bürgern, Staatsdiener sowieso, empören. Auch einige nach 1990 rasch gewendete Bürgerrechtler. Die Namen der in diesem Band ihre Gedanken, Erlebnisse und Erfahrungen austauschenden Männer könnten zum Trugschluss verleiten, hier würden »Ewiggestrige« sich in ihren Ansichten zur Zeit und Zeitgeschichte nur gegenseitig bestärken. - Ewiggestrige? Warum hat es dieses Wort noch nicht auf die Unwort-Liste der Gesellschaft für deutsche Sprache geschafft?
Die Protagonisten des hier anzuzeigenden Gesprächsbandes äußern sich selbstbewusst zu dem seit 1990 wabernden, nicht nur sie, sondern alle Ostdeutschen, die ihre Fähnchen nicht in den bundesdeutschen Wind hingen, stigmatisierenden Vorwurf. Egon Krenz, letzter SED-Generalsekretär und verunglückter, unglücklicher Reformer: »Manche setzen ›ewig gestrig‹ mit ›unbelehrbar‹ gleich.« DDR-Staranwalt Friedrich Wolff, mittlerweile stolze 98 Jahre alt, bekundet forsch: »Ich bin sehr belehrbar. Bis 1990 hatte ich beispielsweise eine sehr hohe Meinung von der westdeutschen Rechtsprechung. Bis ich Honecker als Mandanten hatte.« Krenz räumt ob der Behauptung »angeblicher Fixierung auf die DDR-Vergangenheit« ein: »Es stimmt, und es stimmt wiederum nicht. Wir nehmen doch, im Rahmen unserer Möglichkeiten, am gegenwärtigen Leben teil. Wir sind, in Maßen, politisch aktiv, lesen Zeitungen, verfolgen die Nachrichten, ärgern oder freuen uns über bestimmte Entwicklungen.« Worauf Wolff einwendet: »Viele Anlässe zur Freude gibt es nicht gerade. Wir können uns gegenseitig den Kanon der Ärgernisse vorsprechen, von A wie Afghanistan und dem dortigen Bundeswehreinsatz über C wie Covid-19 und die Maßnahmen gegen die Pandemie, weiter über T wie Trump und R wie Russophobie bis hin zu Z wie ZDF und dem dort beheimateten Furor gegen die Volksrepublik China. Bei jedem einzelnen Thema kommt mir die Galle hoch.« Und Krenz führt an anderer Stelle noch aus: »Wir müssen ehrlich zu uns selbst sein, wenn wir über die eigene Vergangenheit reden. Umso überzeugender können wir doch den anderen deren kriminelle Geschichte vorwerfen.«
So weit, so gut. Aber wie, bitteschön, fanden der Berufspolitiker und der Rechtsgelehrte zueinander? Zwei Männer unterschiedlicher Herkunft, Sozialisation und Profession. Wolff, in den sogenannten Goldenden Zwanzigern in Berlin-Neukölln als Sohn eines jüdischen Arztes und einer protestantischen Mutter geboren, war unter anderem Strafverteidiger in politischen Prozessen. Etwa gegen Aufständische vom 17. Juni 1953 und des Cheflektors des Aufbau-Verlages, Walter Janka, sowie 1975 des in der Bundesrepublik angeklagten Top-Spions des DDR-Auslandsgeheimdienstes, Günter Guillaume. Krenz, Jahrgang 1937, begann seine politische Karriere in der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, und trat im Oktober 1989 die Nachfolge von Erich Honecker auch als Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR an - eine Ämterhäufung, die von jenen damals auf Straßen und Plätze strömenden Hunderttausenden DDR-Bürgern eben nicht mehr gewollt war, weshalb denn seine Amtstage begrenzt waren. Die beiden Männer teilen politische Grundüberzeugungen. »Gelegentlich treffen sie sich zum Gedankenaustausch, so auch im September 2020«, erläutert Verleger Frank Schumann in seiner Vorbemerkung. Das mehrere Tage währende Gespräch habe kaum der Moderation bedurft. Das glaubt man gern. Man findet während der Lektüre bestätigt: Ein Wort ergibt das andere. Die Exponenten kommunizieren auf gleicher Wellenlänge, auch wenn es mitunter Dissens gibt.
Es ist ein Geschichtsbuch der besonderen Art. Ein Parforceritt durch jüngste deutsche Historie, gespickt mit persönlichen Erinnerungen - an die Hitlerdiktatur, die Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge der Nazis, den Kalten Krieg, die Teilung Deutschlands, den antifaschistisch-demokratischen Neubeginn im Osten und die Restauration im Westen. An die Bonner Hallsteindoktrin mit ihrem Alleinvertretungsanspruch, über den Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland 1972 sowie die Früchte der Entspannungspolitik bis hin zur Erosion und Implosion des ostdeutschen Staates und dessen Einverleibung in die Bundesrepublik - »deren Bürger wir 1990 ohne unser Zutun geworden sind«, wie Krenz sagt. Wolff ergänzt: »Was heißt ›ohne unser Zutun‹? Ich bin so wenig gefragt worden wie Millionen andere DDR-Bürger auch. Der Verweis auf das Volkskammervotum am 18. März 1990, mit dem dieser Anschluss demokratisch legitimiert worden sei, ist eine weitere Lebenslüge dieses Staates. Wir wissen doch, wie diese Wahlen liefen. Hier haben westdeutsche Parteien massiv Wahlkampf gemacht und die Leute überrumpelt, mindestens getäuscht mit Versprechungen von blühenden Landschaften und dass es niemandem schlechter gehen werde.«
Im Mittelpunkt steht, wie der Titel verheißt, die Debatte um Rechtsstaat und Rechtsstaatlichkeit, was einen Diskurs über das politisch-polemische Kunst- und Unwort »Unrechtsstaat« impliziert, von Krenz und Wolff vehement abgelehnt. Und vom Juristen mit fachlichen Argumenten und Zitaten westdeutscher Kollegen untermauert, deren Vokabular ebenfalls nicht jenen maßgeblich vom ehemaligen bundesdeutschen Justizminister und vormaligen BND-Chef Klaus Kinkel geprägten Begriff kennt. Wolff geht schließlich gar soweit, die DDR den eigentlichen Rechtsstaat auf deutschem Boden zu nennen. Dafür bringt er plausible Gründe vor, die Krenz aus seiner politischen Praxis zu bestätigen, respektive zu bereichern weiß.
Das beginnt mit der Feststellung, dass sich die Bundesrepublik selbst explizit als Rechtnachfolger des im Gefolge eines unter preußischer Ägide provozierten Krieges 1871 im Spiegelsaal von Versailles ausgerufenen »Deutschen Reichs« versteht. Von Verfassungsrichtern damit begründet, »dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist«. Tja, da muss sich eigentlich keiner über die Umtriebe der obskuren »Reichsbürger« wundern.
Andererseits, so Krenz und Wolff, will die Bundesrepublik trotz Betonung staatlicher Kontinuität mit den Verbrechen des NS-Regimes nichts zu tun haben, lehnt diesbezüglich jegliche Verantwortung ab, was unter anderem die beharrliche Verweigerung von Entschädigungszahlungen an Griechenland als ein Opfer deutsch-faschistischen Okkupationsterrors bezeugt. In der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR hingegen wurde ein wirklicher Neuanfang, ein konsequenter Bruch mit unseligen Kontinuitäten gewagt. Dies wirkte sich auch aufs Rechtssystem aus, das volkstümlicher, volksnäher als das bundesdeutsche war. Schon in der Sprache, kein Juristenkauderwelsch, das der gemeine Mann und die gemeine Frau nicht verstehen. Dieser Vorzug ist übrigens auch in der westdeutscher Zunft anerkannt, weshalb denn vor Jahren an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ein Versuch gestartet worden ist, die bundesrepublikanische Juristensprache verständlicher zu gestalten. Krenz/Wolff benennen als Vorteile des DDR-Rechtssystems des Weiteren das Arbeits- und Familienrecht, die Schieds- und Konfliktkommissionen sowie die Eingabenkultur, die teurere und langwierige Gerichtsverfahren erübrigte. Und Krenz erinnert sich zudem an ein Treffen von Honecker mit Helmut Schmidt: Der Bundeskanzler meinte damals, die Bundesrepublik sei »in Wahrheit kein Rechts-, sondern ein Gerichtsstaat«. Nach 1990 von Zigtausenden Ostdeutschen erlebte, erlittene Realität. Andererseits, so gibt Wolffs zu bedenken, gab es in der DDR keine Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit - weil sie »als Ausdruck bürgerlicher, also kapitalistischer Staats- und Rechtsvorstellungen betrachtet« worden sind, die es zu überwinden galt.
Dissens scheint auf hinsichtlich der »Schauprozesse« in der DDR. Krenz lehnt diese Bezeichnung als »Kampfbegriff der Westpropaganda« ab, während Wolff konzediert, dass in der Tat »politisch-moralische Urteile« gefällt worden sind, »was üblicherweise nicht Aufgabe der Justiz ist«. Das geschah aber auch die b´Bundesrepublik, etwa mit dem KPD-Verbot und im Zuge des »Radikalenerlasses« sowie bei den Prozessen gegen DDR-Funktionsträger. Krenz wurde zu sechs Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, während zeitgleich in der DDR gefällte Urteile gegen Nazi- und Kriegsverbrecher willkürlich und widerrechtlich aufgehoben wurden. Rehabilitiert wurde zum Beispiel der Judenmörder und bundesdeutsche Vertriebenenminister Theodor Oberländer, den Wolff im damaligen DDR-Prozess als Pflichtverteidiger vertrat. Eine Zumutung für den Mann, dem in der NS-Zeit als »Halbjude« ein Medizinstudium, seine erste Wahl, verwehrt worden war. Auch Hans Globke, Chef des Bundeskanzleramtes und einst Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, hat er verteidigt. Nach bestem Wissen als Anwalt, freilich wider sein Gewissen. Die Krux eines Anwalts halt.
Es gäbe noch viel zu diesem Erkenntnis bringenden, auch Widerspruch herausfordernden Band zu sagen, »Plauderei« auf hoher intellektueller Ebene und vielfach amüsant. Da hier indes kein Raum mehr hierfür gegeben ist, sei mit einem Zitat aus dem Band geendet: »Machen wir für heute Schluss.«
Egon Krenz/Friedrich Wolff: Komm mir nicht mit Rechtsstaat. Edition Ost, 208 S., br.,
15 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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