- Politik
- Polnische Justizreformen
Schmetterball und schwarze Komödie
EuGH urteilt zu polnischen Justizreformen, Warschau vertagt Grundsatzentscheidung erneut
In Warschau hat man sich am Donnerstag vertagt - wieder einmal. Und so harrt die von Premier Mateusz Morawiecki im März dem polnischen Verfassungsgericht vorgelegte Frage, ob und wie die nationale Verfassung Vorrang vor EU-Recht hat, weiter einer Antwort. Über sie soll nun frühestens im August entschieden werden.
Zuvor wurde am Vormittag die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) bekannt. Die Richter in Luxemburg bewerten einen Kern der polnischen sogenannten Justizreformen als nicht vereinbar mit dem Unionsrecht: Mit den unter der PiS-Ägide seit Ende 2015 eingeführten Disziplinarmaßnahmen gegen Richter verstößt Polen »gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht«, weil zum Beispiel die 2018 geschaffene Disziplinarkammer »nicht alle Garantien für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit« bietet. Sie sei »nicht unempfänglich« für Einflussnahmen durch Parlament und Regierung, heißt es dazu im Urteil (Az C-791/19). Die Möglichkeiten der Sanktionen gegen Richter reichen bis hin zur Suspendierung. Bereits im April 2020 hatte der EuGH angeordnet, dass diese Kammer ihre Tätigkeit einstellen müsse, was nicht geschah.
Nach einer Woche der Wahrheit liegen die Karten jetzt auf dem Tisch. Fast alle, denn Polen wartet mit seiner Reaktion, die seit dem Frühjahr immer wieder verschoben wurde, zuletzt auf diesen Donnerstag. Zuvor hatte es bereits rechtliches Pingpong zwischen Warschau und Luxemburg gegeben. Am Mittwoch ordnete der EuGH erneut einstweilig an, dass die Kammer ihre Arbeit nicht fortsetzen dürfe. Aus Warschau dann gestern ein Schmetterball als Antwort: Anordnungen des EuGH zu Justizreformen seien gar nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar, entschied das von der PiS seit 2015 neu geordnete Verfassungsgericht. Dessen Rechtmäßigkeit darf bis heute angezweifelt werden. Präsident Duda weigerte sich nach 2015, die noch von der Vorgängerregierung berufenen Richter zu vereidigen. Einige spätere neue Richter des Trybunał Konstytucyjny sind nach den von der PiS eingeführten Regeln eigentlich zu alt - so wie Stanisław Piotrowicz, der die Entscheidung am Mittwoch verkündete. Aber es wäre nicht Polen, wenn in all der Tragik und Dramatik nicht auch etwas schwarze Komödie zu finden wäre: Piotrowicz wurde 2019 ans Verfassungsgericht berufen, 30 Jahre nach der Wende in Polen. Die PiS-Erzählung, auch zu den Justizreformen, lautet ja stets, »Einflüsse des Kommunismus« zu eliminieren. Da werden dann auch Richter diszipliniert, die in der Volksrepublik noch Kinder waren. Der 1952 geborene Piotrowicz nicht - der war Staatsanwalt, Mitglied der Staatspartei PZPR (dt. PVAP) und ging zur Zeit des Kriegsrechts ab 1981 gegen Solidarność vor. Er hätte sich innerhalb des Apparats dafür eingesetzt, größere Unterdrückung zu verhindern, so lautete die Erklärung aus der PiS 2019. Zumindest qualifiziert fürs Aufspüren »kommunistischer Einflüsse« dürfte er sein.
Die aktuelle Regierung wolle die EU verlassen, warf Oppositionsführer Donald Tusk dieser am Mittwoch vor, die EU-Kommission zeigte sich am Donnerstag »besorgt«. Welche Mittel die EU neben Geldstrafen hat, den Urteilen Geltung zu verschaffen, bleibt vorerst offen - Anordnungen und Gerichtsbeschlüsse wurden bisher schon ignoriert. Selbst Vertragsverletzungsverfahren halten die PiS-Regierung nicht davon ab, den gemeinsamen Rechtsrahmen infrage zu stellen. Viel mehr Trümpfe hat die EU derzeit nicht. Ein »Polexit«, den eine stabile Mehrheit der Polen ablehnt, steht plötzlich wieder im Raum.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.