Wolken, Watt und Wiesen

Friesland: Natur, Geschichte und Kultur der vielseitigen niederländischen Provinz lassen sich jetzt auf neuen Pilgerrouten entdecken. Vielerorts kann man in ehemaligen Kirchen übernachten

  • Carsten Heinke, Leeuwarden
  • Lesedauer: 5 Min.

Weit reicht das Auge übers flache Land am Meer. Strände, Dünen, Wiesen, Felder, Sumpfgebiete, Wälder - bedeckt von einem schier unendlich großen Himmel. So wie sich dem Blick die ganze Welt zu öffnen scheint, so schließen sich den Reisenden nach viel zu langer reisefreier Zeit die Herzen auf. Die Lungen voll vom frischen Nordseewind, lassen sie die Seelen baumeln. Schon nach den ersten Schritten fühlt sich alles besser an.

»Die Wahl war gut«, bestätigt Àngel die Entscheidung, im holländischen Friesland ein paar Urlaubstage zu verbringen. Der Katalane, der in Deutschland lebt, mag die Natur der nördlichen Region - nicht zuletzt, weil er hier Robben sehen kann. »Es ist ein prima Platz, um beim Bewegen an der frischen Luft Ruhe und sich selbst zu finden und neue Kraft fürs Leben in der Stadt zu tanken«, so der junge Mann aus Barcelona. Viele lassen sich wie er vom spröden Charme der uralten Kulturlandschaft bezaubern.

Seit vielen Hundert Jahren leben Friesen in den »Drei Frieslanden« an der niederländischen und deutschen Nordseeküste: Ostfriesland in Niedersachsen, Nordfriesland in Schleswig-Holstein und das Westerlauwersche, das im Wesentlichen der heutigen Provinz Friesland zwischen IJsselmeer und Groningen entspricht. Ihre Hauptstadt ist Leeuwarden, Amtssprache neben Niederländisch auch Westfriesisch.

Eine Schnecke weist den Weg

»Bekannt ist die Region mit elf historischen Städten für Wattwandern und Schlittschuhlaufen - und neuerdings auch immer mehr fürs Pilgern«, sagt Anke Dorenbos. Die Deutsche lebt seit über 20 Jahren in den Niederlanden und ist interkulturelle Businesstrainerin. Mit ihrer Arbeit für Merk Fryslân und The Dutch & German connection wirbt sie für den Tourismus in ihrer zweiten Heimat.

Ein großes gelbes Schneckenhaus leuchtet als Logo auf dem dunkelblauen Hinweisschild. Die Nordsee-Wellhornschnecke kennzeichnet seit 2000 den friesischen Jabikspaad (Jakobsweg). Der 150 Kilometer lange Abschnitt der sonst durch eine Jakobsmuschel repräsentierten Wallfahrtsroute ist der bekannteste Pilgerweg durch Friesland. Ausgangspunkt ist Sint Jacobiparochie - oder kurz: Sint Jabik. Das verträumte Städtchen mit 1400 Einwohnern liegt nordwestlich von Leeuwarden. Anfang des 16. Jahrhunderts war es als neues Dorf am Meer entstanden. Die neoklassizistische St.-Jakobs-Kirche in der Ortsmitte wird als Kulturhaus »De Groate Kirk« (Die Große Kirche) genutzt. Im Eingangsbereich ist das Pilgerinformationszentrum untergebracht.

Um den friesischen Teil des Jakobsweges auszuprobieren, wollen Àngel und seine Begleiter von Sint Jabik durch schöne Nordseelandschaft bis nach Akkrum an der Boorne laufen. Zur Übernachtung ist die Ievers-Kirche in Oosterwierum eingeplant. Das ehemalige kleine Gotteshaus bietet seit einigen Jahren als gemütliche Ferienunterkunft Platz für bis zu zehn Personen.

Straße der Sterne

»Der Legende nach soll bereits Karl der Große von einer Straße der Sterne geträumt haben, die vom Friesischen Meer zum Grab des Apostels Jakobs des Älteren bis nach Santiago de Compostela führte«, weiß Àngel, der in Spanien schon oft gepilgert ist. Nach der vollständigen Eingliederung Nordspaniens in das christliche Herrschaftsgebiet um das Jahr 930 wurde die Ruhestätte des Missionars sehr bald zum Ziel länderübergreifender Wallfahrten. Schon im elften Jahrhundert strömten dazu Pilger aus allen Teilen Europas nach Santiago de Compostela.

Ziel in Friesland soll die Gemeinde Akkrum sein. Hier erwartet die Pilger neben zwei hübschen Sakralbauten die rot-weiße Coopersburg, ein prachtvolles Gebäude im Stil des Historismus. Der Akkrumer Philantrop Folkert Harmens Kuipers alias Frank Cooper, nach Amerika ausgewandert und dort als Geschäftsmann erfolgreich, hatte es 1900 zum Dank an seine alte Heimat als Ruhesitz für arme alte Menschen bauen lassen.

Als Alternative zum Jakibspaad empfiehlt Dorenbos den St.-Odulphus-Weg mit 15 schönen, 260 Kilometer langen Pilgerrouten. »Er führt durch sieben der elf friesischen Städte im Südwesten der Provinz sowie durch De Greidhoeke und Gaasterland«, so die Expertin. Übernachten könne man im Hotel Het Weeshuis. Über vier Jahrhunderte war es das Waisenhaus von Bolsward.

Auch der Bonifatius-Klosterweg gehört zu ihren Tipps. »Zwölf Etappen, unterschiedlich lang, lassen sich auf ihm erwandern. Er folgt den historischen Spuren der friesischen Mönche zwischen Watt und Wald«, erläutert Dorenbos. Die Missionare Willibrord und Bonifatius kämpften hier für die Verbreitung des christlichen Glaubens. Willibrord, der als »Apostel der Friesen« verehrt wird, kam 690 erstmals aus North-umbrien nach Friesland. Der in Wessex als Wynfreth geborene Bonifatius, später »Apostel der Deutschen« genannt, unternahm seine erste Missionsreise im Jahre 716 zu den Friesen.

Für Dorenbos ist der Bonifatius-Klosterweg zum Pilgern und Wandern ideal: »Er verbindet wunderschöne Landschaften der Wattküste und des offenen Meereslehmgebietes mit Hügeldörfern, Heidefeldern und Wäldern«, schwärmt die Wahlholländerin. Höhepunkt der Tour sei Dokkum, wo der Heilige 754 erschlagen wurde und seitdem als Märtyrer verehrt wird. Bereits kurz nach seinem Tod wurde Dokkum zum Wallfahrtsort - und blieb es bis zur Reformation. Seit dem 19. Jahrhundert pilgern wieder Christen in die Friesenstadt. Viele hoffen dort auf kleine Wunder aus der Bonifatiusquelle.

Wanderpause an der alten Abtei

Im grenznahen Zoutkamp beginnt schließlich die vierte Pilgermöglichkeit: der Claercampweg. Über 75 Kilometer mäandert er durch den Norden Frieslands. Vorbei an Hegebeintum, der mit 8,8 Metern über Normalnull höchsten Warft, einem künstlich aufgeschütteten Siedlungshügel, der Niederlande, geht es zurück nach Sint Jacobiparochie. Für eine Wanderpause bietet sich das Museum Kloster Klaarcamp an. Hier entwickelte sich ab dem zwölften Jahrhundert die bedeutendste Zisterzienserabtei der nördlichen Niederlande.

Wer sich seinen wohlverdienten Pilgerschlaf lieber in einer alten Landkirche holen will, kann seine komplette Fahrrad- oder Wandertour danach planen. Zu den schönsten Optionen gehören die Nicolaes Tsjerke (Nikolaikirche) in Swichum, die Redbadtsjerke (Kirche des Heiligen Radbod) in Jorwert und die Piterkerk (Peterskirche) in Lippenhuizen. »Das Übernachten unter Kirchenkuppeln ist in den Niederlanden schon ein Trend«, sagt Anke Dorenbos. Es gibt sogar ein eigenes Wort dafür: »Tsjemping« - gebildet aus »Tsjerke« (Kirche) und Camping. »Meistens sind es ganz einfache Unterkünfte, die wenig kosten und für wirklich großartige Pilgererlebnisse sorgen«, so die Touristikfachfrau. Bei Vorlage eines Routenheftes einer der vier Pilgerwege oder eines Pilgerpasses der niederländischen Jakobs-Genossenschaft können Wanderer und Radfahrer diese Refugios zwischen April und September nutzen.

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