»Die Leute haben einfach Hunger«

Tausende Menschen haben in Kuba protestiert. Das ist für das Land äußerst ungewöhnlich

  • Andreas Knobloch, Havanna
  • Lesedauer: 6 Min.

»Die Leute im Ausland glauben wohl, hier herrscht Bürgerkrieg?!«, sagt Yaneilys*. Eine Freundin aus Miami habe sie angerufen, sie könne seit drei Tagen nicht schlafen vor Sorge, erzählt die junge Hausfrau und Mutter aus Havanna. »Ich habe ihr gesagt: Schlaf ruhig, denn hier schlafen alle seelenruhig.«

In mehreren Städten Kubas waren am Sonntag Tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Lebensmittel- und Medikamentenknappheit zu protestieren und politische Veränderungen zu fordern. Ein solcher Ausbruch sozialer Unzufriedenheit ist äußerst ungewöhnlich für Kuba - und bestimmt seither die Nachrichten. »Alle denken, die Leute sind immer noch auf der Straße«, sagt Yaneilys. »Dabei ist alles ruhig. Aber wir haben kein Internet, um uns mitzuteilen.« Seit Sonntag funktioniert das mobile Netz nur sehr eingeschränkt. Anfangs war auch sie beunruhigt. »Dass die Leute so auf die Straße gehen, hat es hier noch nie gegeben«, sagt sie. »Die Leute sind frustriert. Selbst für Geld gibt es nichts zu kaufen.«

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»Die Demonstrationen vom Sonntag sollten keine Überraschung sein«, sagt Carlos Alzugaray, kubanischer Ex-Diplomat und politischer Analyst aus Havanna. Die Ursachen seien vielfältig: »Die Anstachelung über soziale Netzwerke von außen, die zu einem großen Teil durch die US-Blockade verursachte erhebliche Verschlechterung der sozialen Lage - vor allem in marginalisierten Vierteln, die zunehmenden Schwierigkeiten beim Erwerb von Lebensmitteln, das Gefühl, die Regierung handhabe die Pandemie nicht effizient und eine ineffiziente Kommunikationsstrategie der Regierung.«

Verschwunden oder im Büro?

Hinzu kommt nun nach den Protesten die Kritik am rigorosen Einsatz der Polizei. In den sozialen Netzwerken werden Bilder und Videos von Verhaftungen, Zusammenstößen und exzessiver Polizeigewalt geteilt. Oft ist allerdings unklar, wann und unter welchen Umständen sie gedreht wurden; andere sind offensichtlich nicht aus Kuba. Auch wenn das Ausmaß der Gewalt nicht zu vergleichen ist mit der Gewalt in Ländern wie Kolumbien oder Chile reagierten viele Kubaner*innen entsetzt. So auch Alejandra. »Ich wollte, dass mich die Erde verschluckt«, sagt die Angestellte einer ausländischen Firma. »Das gab es in Kuba nicht, dass Leute Polizeiautos umwerfen und diesen Grad von Gewalt.« Kubanische Freunde im Ausland hätten sie besorgt angerufen. »Alle denken, hier ist ein Umsturz im Gange. Dabei ist alles wieder normal. Aber ohne Internet …« Sie zuckt mit den Schultern.

Das eingeschränkte Netz macht es schwer herauszufinden, was außerhalb Havannas passiert, oder die Zahl der Festnahmen zu überprüfen. Die ist weiterhin unklar. Einige sprechen von knapp 170 Verhafteten, andere von bis zu 5000. Es kursieren diverse Namenslisten. Man habe am Mittwoch eine Liste der US-Tageszeitung »Miami Herald« abtelefoniert, sagte ein Vertreter des Goethe-Instituts in Havanna dem »nd«, und dabei »mehrere der angeblich Verschwundenen am selben Tag in ihren Büros und Wohnungen kontaktiert.« Die Regierung kündigte derweil harte Strafen von mehreren Jahren Gefängnis für Randalierer an.

Die Rolle der USA

»Ist es das wert?«, fragt Luís. Der 59-jährige Kunsthandwerker aus Centro Habana verbringt seit Tagen mehrere Stunden täglich vor einem Geschäft, in der Hoffnung, dass irgendetwas angeliefert wird. Vor einigen Tagen hat er Zigaretten auftreiben können. Selbst die sind im Tabakland Kuba mittlerweile Mangelware. »Ich sage immer: Wenn Du nicht einverstanden bist, ist das Intelligenteste: Besorg’ Dir einen Pass und verlass’ das Land.« Sein Sohn, der Medizin studiert, habe dies nun vor. »Kurzfristig wird es nicht besser werden«, sagt Luís. Trotzdem glaubt er nicht, dass nach Ankündigung der harten Strafen die Proteste anhalten. »Das, was passieren sollte, ist passiert.«

Auch in Kuba breitet sich eine Erregungskultur aus und die Polarisierung nimmt zu. Einige Regierungsgegner schreiben im Netz von Genozid und Faschismus und sammeln Unterschriften für eine Militärinvasion der USA. »Klar bin ich besorgt«, sagt Karolina, die als Bauzeichnerin für ein staatliches Planungsbüro arbeitet. »Aber ich habe nicht wirklich Angst«, so die 26-Jährige. »Meine Freundinnen, die haben Angst vor einer Invasion. Das ist etwas, was passieren kann.« Erschrocken sei sie wegen der Kubaner*innen selbst, »dass wir untereinander gewalttätig werden«. Wie viele hatte sie den Aufruf von Präsident Miguel Díaz-Canel, »die Revolution auf der Straße zu verteidigen«, so verstanden. Das kam gar nicht gut an. Später relativierte Díaz-Canel die Aussage und versuchte, versöhnlicher zu klingen.

Die Regierung in Havanna hält die Proteste für von den USA gesteuert. Es stimme zwar, dass Influencer Geld von der US-Regierung erhielten, sagt Alzugaray. Aber es sei schwer zu glauben, dass die US-Regierung soziale Instabilität bis hin zur Provokation unkontrollierter Gewalt fördern wolle. »Ich denke, die kubanische Regierung macht einen Fehler, wenn sie das Ausmaß ihrer eigenen Handlungen oder Versäumnisse unterschätzt, die die Unzufriedenheit hervorgerufen haben.«

Es gibt fast nichts - »kein Obst, kein Gemüse, noch nicht einmal Kochbananen«, sagt René, ein 48-jähriger Schreiner aus einem Vorort von Havanna. »Wie soll es da keine Proteste geben? Die Leute haben einfach Hunger.« Alles sei teuer geworden. »Wie es weitergeht? Wie immer. Alles bleibt beim Alten oder wird noch schlimmer.«

In Havanna sind seit den Protesten mehr Polizisten auf den Straßen; am Malecón patrouillieren Sondereinheiten in martialischem Schwarz, ansonsten ist Normalität eingekehrt. Das Leben ist wieder wie vorher: Die Menschen stehen vor fast leeren Geschäften Schlange, um das Nötigste zu kaufen.

Gastronomie darf aufgrund der Pandemielage nur per Lieferdienst stattfinden, einige akzeptieren unter der Hand trotzdem Gäste. So auch Roberto, ein Selfmade-Mann um die vierzig, in seinem Café in Havannas Stadtteil Vedado. Es ist gut besucht. Alle hängen an ihren Handys. Die Internet-Sperre lässt sich per VPN umgehen. Angesprochen auf die Proteste sagt Roberto: »Ich bin mit vielem nicht einverstanden, aber mich auf der Straße prügeln? Das führt zu nichts.« Die Regierung könne ohnehin wenig tun. »Das Problem ist die Pandemie. Dafür gehen die wenigen Ressourcen drauf: Jeden Tag 6000 neue Fälle; Du musst den Leuten in den Isolationszentren Frühstück, Mittag und Abendessen geben. Das kostet. Dazu die Blockade.«

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An Veränderungen glaubt auch er nicht. »Das einzige, was passieren wird: Keine Stromabschaltungen mehr und sie werden die Reserven hervorholen, die sie bisher nicht angetastet haben.« Sie, das ist die Regierung. Und tatsächlich. Wenige Stunden später verkündet die Regierung in einer TV-Sondersendung, dass Kubas größtes Kraftwerk 17 Tage nach einer Havarie wieder ans Netz geht. Lebensmittel, Medikamente und Hygieneartikel können bis Ende des Jahres unbegrenzt und zollfrei eingeführt werden. »Euer Protest war nicht umsonst. Im Fischladen gib es nun Shrimps«, kommentiert jemand in den sozialen Netzwerken sarkastisch.

»Die kubanische Regierung muss dringend Maßnahmen zur Schadensbegrenzung umsetzen, die nicht allein auf Repression beruhen können. Sie muss die versprochenen Reformen in Angriff nehmen«, sagt Alzugaray. »Es gibt eine offensichtliche Erosion der Überzeugungskraft des Arguments, dass alles an der Blockade liegt. Der Missbrauch dieses Arguments ohne Fokus auf die eigenen Fehler der Regierung kann zu einem weiteren Verlust der Glaubwürdigkeit führen.« Am Donnerstag kehrte zumindest das Internet langsam zurück.

* Alle Namen wurden auf Wunsch geändert

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