»Absaufen!« in Alabama, 1962

Der Mob als zeitloses Phänomen in der bürgerlichen Gesellschaft

  • Henning Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.

Manchmal sitzt man so mit einem Buch herum, einem alten Buch, und es schleudert einen ohne Warnung in die Gegenwart. In seinem immer noch erschütternden Roman »Ein anderes Land« aus dem Jahr 1962 beschreibt der schwarze US-Amerikaner James Baldwin, wie Rassismus und Homophobie die amerikanische Gesellschaft dieser Zeit prägten und den Menschen in ihr das Leben zur Hölle machten. Die Erlebnisse von Rufus, Ida, Eric und den anderen zeigen nicht allein die Gewalt des Rassismus und der patriarchalen Vorstellungen in jeder Faser der materiellen Welt und in den Köpfen derer, die sie bevölkern. Auf eine Weise, die einen immer wieder vor Begeisterung das Buch für eine Denkpause weglegen lässt, schafft es Baldwin auch, die Beschädigung derjenigen zu beschreiben, die als Weiße den Rassismus aufrechterhalten.

Es sind Stellen wie der folgende Absatz, der von unseren Tagen zu sprechen scheint, Assoziationen zum Heute weckt. In ihm stellt Baldwin dar, wie im südlichen US-Bundesstaat Alabama der Hass der reaktionären Bevölkerung auf das Schwulsein des weißen Protagonisten Eric funktioniert: »Sie hatten vor langer Zeit aufgegeben, zu sagen, was sie wirklich fühlten. Und zwar vor so langer Zeit, dass sie nun unfähig waren, irgendetwas zu fühlen, das sie nicht zum Teil eines Mobs machte.«

Was Baldwin hier (unter anderem) beschreibt, ist die Unfähigkeit, sich als unabhängiges Subjekt innerhalb einer Gesellschaft zu begreifen - und zu empfinden. Die eigene Psyche und Emotionalität ist im Kapitalismus, ob nun im Alabama der 50er Jahre oder in der »marktkonformen Demokratie«, geprägt von der pausenlosen Konkurrenz und dem Zwang, sich in den Mühen und Mühlen der Lohnarbeit zu behaupten. Der Zugang zu dieser Erfahrung aber ist verbarrikadiert durch all den Mist der Waren produzierenden Nation, von ihrer begeistert konsumierten Resterampe der Eigentlichkeit. Der Mensch ist hier reduziert auf Mann und Frau, Deutsche*r und Ausländer*in, Arbeitstier und Versager*in. Vereinzelt und entfremdet von der eigenen Erfahrung wird allzu oft Zuflucht im gewaltvollen Kollektiv gesucht. Erst hier wird es möglich, etwas »wirklich zu fühlen«: Überlegenheit, Verbindung zu etwas Großem und Ganzen - und Hass auf die, die in dieser Halluzination stören.

Und so erinnert Baldwins Diagnose, »unfähig zu sein, irgendetwas zu fühlen, das nicht zum Teil eines Mobs macht«, bei allen Unterschieden in Raum und Zeit eben an den Dresdner Mob, der im Sommer 2018 bei einer Pegida-Demonstration in Sprechchören das »Absaufen« der Menschen forderte, die über das Mittelmeer nach Europa flüchten. Auch die Leute dieses Mobs leben in einer Welt, in der es offenbar nur noch möglich ist, sich die eigene Bedürfnisbefriedigung menschenfeindlich vorzustellen. Und nicht als Teil eines gemeinsamen, lustvollen, solidarischen Alltags, als Erweiterung, nicht Reduzierung menschlicher Vorstellungskraft, oder sogar, wenn man noch träumen darf, als Teil einer kollektiven Bewegung gegen die Zumutungen der Arbeitsgesellschaft.

So eine Erklärung macht den Rassismus nicht weniger rassistisch und die Gewalt der Verhältnisse nicht weniger schmerzvoll. Aber es ist kein Zufall, dass diese Gewalt in einem Roman, der vor 60 Jahren geschrieben wurde, ebenso sichtbar ist wie in den Kundgebungen der nationalistisch Verstörten des Jahres 2021: Ob nun in Dresden bei den »Absaufen!«-Freaks, deren Begeisterung für menschliches Leid das Blut in den Adern gefrieren lässt oder bei den irrationalen, aber sehr erfolgreichen faschistischen Bewegungen in den USA. Man darf weder vergessen, dass es diese Leute gibt, noch warum es sie gibt. Manchmal hilft dabei ein Buch von früher und von ganz woanders - und dass das so ist, ist mindestens ein Trost, vielleicht ein hilfreicher Gedanke, oder hoffentlich sogar mehr.

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