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- Corona und soziale Folgen
Eine bedenkliche Nützlichkeitsdebatte
Corona und Menschen mit Beeinträchtigungen - eine Zwischenbilanz von Daniel Horneber
Als die Corona-Pandemie begann, war der Kampf behinderter Menschen gegen eine Bevormundung der Politik gerade im vollen Gange. Es ging darum, die Härten, die das sogenannte Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz für Menschen die auf künstliche Beatmung angewiesen sind, abzuwehren. Dabei ging es im Kern darum, dass nicht mehr die Menschen mit Behinderungen selber bestimmen, ob eine künstliche Beatmung zu Hause berechtigt ist, sondern die Krankenkasse. Und die wiederum hat ein Interesse, Geld zu sparen und tendiert daher dazu, Menschen doch lieber in Heimen unterzubringen, wo mehrere Menschen mit einem Beatmungsgerät behandelt werden können. Anstatt dass sie mit Hilfe persönlicher Assistenz selbstbestimmt zu Hause, in den eigenen vier Wänden wohnen können und dort beatmet werden.
Warum ich das erwähne: Der Umgang mit behinderten Menschen in der Pandemie und der Kampf gegen das sogenannte Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz stehen in einem gewissen Zusammenhang zueinander. Und die sogenannte Triage spielt dabei eine wichtige Rolle.
Triage meint die Sortierung von Patient*innen in Gruppen von vorrangig und einer von nachrangig zu behandelnden Personen. Eine solche Sortierung wird vorgenommen, wenn die Zahl der zu behandelnden Personen die verfügbaren Ressourcen übersteigt, wenn zum Beispiel nicht genügend Beatmungsgeräte oder Sauerstoffreserven zur Verfügung stehen. Das war in Italien während der Corona-Pandemie der Fall und auch in Deutschland zeitweise nicht ausgeschlossen.
Doch wer ist eigentlich schuld daran? Es ist kein Naturgesetz, dass nur begrenzte Kapazitäten im Gesundheitswesen verfügbar sind. Die Verantwortung für die Zustände in Italien liegt bei denjenigen, die dem kapitalistischen Privatisierungswahn im Gesundheitswesen das Wort geredet haben. Die Verantwortung trägt im Falle von Italien im gehörigen Maße die Austeritätspolitik der EU unter deutscher Führung.
Was haben die Triage und die Diskussion um das von CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn (was für eine Fehlbesetzung!) vorangebrachte Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz und der Umgang mit Menschen mit Behinderung in der Pandemie gemeinsam? Es gibt wieder eine Nützlichkeitsdebatte um Menschen mit Behinderungen, die in besorgniserregendem Maße an die eugenische Tradition anschließt. Dass eine solche Debatte in Deutschland wieder geführt wird, zeigt sich beispielsweise in der Forderung, über Risikogruppen pauschal Quarantäne zu verhängen. Das Ziel solcher Forderungen: dem gesunden Teil der Bevölkerung Einschränkungen zu ersparen.
Dafür nahm und nimmt man aber die gesellschaftliche Ausgrenzung einer großen Gruppe von Menschen in Kauf. Behindertenheime und Wohngemeinschaften, Sonderschulen und Altersheime waren während der Pandemie noch mehr als sonst hermetisch abgesperrte Zonen. Besuchsverbote und Isolierung führten zu teils verheerenden Zuständen in diesen Einrichtungen. Begründet wurde das mit dem Schutz der vulnerablen Personen. Warum dann aber gleichzeitig die Behindertenwerkstätten so lange geöffnet blieben, bleibt mir ein Rätsel und führt das Geschwafel vom Schon- und Schutzraum ein weiteres Mal ad absurdum. Wahrscheinlich war es am Ende eben doch so, dass geöffnet bleiben sollte und durfte, was Geld in die Kassen spült.
Dass in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung dann auch noch die Löhne gekürzt worden sind, ist ein weiterer sozialpolitischer Skandal, der sich fast unbemerkt während der Pandemie ereignete. Er macht die Forderung, endlich Mindestlöhne in diesen Einrichtungen zu zahlen, nur dringlicher.
Für mich ist es blanker Zynismus, wenn also im Endeffekt behauptet wird, dies alles geschehe zum Schutz der am meisten gefährdeten Gruppen. Der eigentliche Grund für diese Überlegungen war es, den Schaden für die kapitalistischen Monopole so gering wie möglich zu halten. Für dieses Ziel wird dann die Inklusion ganz schnell über Bord geworfen.
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