Ost und West, Arm und Reich

Journalist Matthias Krauß seziert in seinem Buch »In eins gespalten« 30 Jahre deutsche Einheit am Beispiel Brandenburgs

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.

»Wir sind vereinigt und doch nicht eins. Als Ungleiche beisammen. In eins gespalten. Gewiss: In dem Sinn, dass Grundgesetz und alle übrigen Bundesgesetze für West- wie für Ostdeutsche gleichermaßen gelten, sind wir ein Volk. Aber damit ist der Einheitsschatz auch schon aufgebraucht«, schreibt der Potsdamer Journalist Matthias Krauß in seinem neuen Buch »In eins gespalten«. Darin beantwortet er die Frage »Sind wir wirklich ein Volk?« mehr oder weniger mit Nein.

Zum geschilderten Abstand zwischen West und Ost geselle sich der von oben und unten. »Denn mit der Demokratisierung 1990 kam der Klassenstaat auch nach Ostdeutschland, und das verfehlte seine Wirkung nicht. Er hat die ostdeutsche Gesellschaft rasend schnell in Arm und Reich geteilt.« So steht es auf Seite 189, mit der das Buch endet. Besser lässt es sich nicht zusammenfassen.

Zwei Deutschlands waren besser als eins

Man möchte meinen, der Autor kommt etwas verspätet, hätte sein Werk doch besser zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit publiziert. Doch er wollte noch auswerten, was am 3. Oktober 2020 bei der zentralen Einheitsfeier in der Potsdamer Metropolis-Halle gesagt wird - coronabedingt war es ein Festakt auf Sparflamme. Deshalb erschien sein Buch erst einige Monate später. Es ist ein Buch über Deutschland, das in seiner langen Geschichte länger geteilt als vereint war und das die Jahre, in denen es BRD und DDR gab, vielleicht zu seinen besten zählen darf, wie Krauß erklärt. Immerhin mussten die Nachbarn in dieser Zeit keine Angst mehr haben, von deutschen Truppen überfallen zu werden, und deshalb sei das Bild der Deutschen im Ausland 1990 so gut gewesen wie nie zuvor in der Geschichte. Krauß zitiert die Bemerkung des französischen Schriftstellers François Mauriac, er liebe Deutschland so sehr, dass er zwei davon haben wolle.

Der Autor nimmt auch die Weltgeschichte und die aktuelle Lage der Europäischen Union in den Blick, kommt aber immer wieder auf sein journalistisches Arbeitsgebiet zurück - das Land Brandenburg. Denn seit drei Jahrzehnten berichtet Krauß für verschiedene Zeitungen aus dem Potsdamer Landtag über das politische Geschehen dort - für »nd« schon sehr lange unter seinem Pseudonym Wilfried Neiße. Folglich werden aufmerksame nd-Leser einige Stellen in dem Buch wiedererkennen, die sie so ähnlich vielleicht schon in der Zeitung gelesen haben.

So illustriert Krauß an Beispielen aus Brandenburg, wie es der ostdeutschen Industrie, Landwirtschaft und Kultur nach 1990 ergangen ist: In seiner ersten Regierungserklärung habe der damalige Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) 1990 fünf Großinvestitionen angekündigt, von denen lediglich eine erfolgte - und auch diese nur in reduziertem Umfang. Die volkseigenen Betriebe wurden privatisiert und häufig dichtgemacht, die fünf neuen Länder in ein vorindustrielles Stadium zurückgeworfen. Heruntergewirtschaftet sei die DDR-Industrie gewesen, wird man nicht müde, zu behaupten. Doch heruntergewirtschaftet wurde der Osten in besonderer Weise nach der Wende, erklärt Krauß. In den Chefetagen von Verwaltung und Medien dominieren Menschen mit Westherkunft, die deutlich weniger über den Osten wissen als die Ostdeutschen über den Westen und die wenig Veranlassung sehen, ihre Vorurteile zu überdenken.

Witze über Westdeutsche

Lesevergnügen bereiten vor allem die Stellen, an denen der Autor sarkastisch wird, so etwa in den zwei Kapiteln zur Mentalität der Ost- und der Westdeutschen. »Uniformität und Vereinheitlichung waren Markenzeichen der DDR und des Lebens in ihr - das ist ein Lehrsatz, der stumm und gebieterisch überm öffentlichen Diskurs steht. Während im Westen die Vielfalt Trumpf gewesen sei und die Menschen ihre Individualität ausprägen konnten«, schreibt Krauß. »Merkwürdig, aber wahr: Aus der Perspektive der Ostdeutschen ist es genau umgekehrt, auf ihn wirken Gedanken, Gefühle und auch die Sprache der Westdeutschen tatsächlich wie von der Stange.« Als eine ihrer Eigenschaften identifiziert Krauß einen irrationalen, »siebenfach betonierten Russenhass«.

Das hat der Autor gut beobachtet, und dennoch wirkt seine Betrachtungsweise stellenweise etwas holzschnittartig. Schließlich können Ost- und Westdeutsche durchaus miteinander befreundet sein und Solidarität füreinander empfinden, wenn sie politische Überzeugungen teilen oder in ähnlichen sozialen Verhältnissen leben. Arm oder reich zu sein, trennt dann in der Regel doch mehr, als die gemeinsame Herkunft verbindet. Aber Krauß hat hier wieder einmal eine Art Streitschrift verfasst. Eine solche benötigt Zuspitzungen - und das macht er gut.

Das schönste Kapitel ist gleich das erste. Es spielt in Rumänien, wo Krauß 1989 mit einem Sportfreund durchs Gebirge stiefelt und nicht mitbekommt, dass die Ungarn die Grenze geöffnet haben und DDR-Bürger über diesen Weg in die Bundesrepublik fliehen. Sie erfahren es an der Burg Draculas, wo ihnen ein Reisebus voller Bundesbürger begegnet. Hier müssen sie sich Rechtfertigungen ausdenken, warum sie die Gelegenheit nicht nutzen, sondern in die DDR zurückkehren wollen. Sportsfreund Lars bringt vor, er sei Indologe, und da sei es für ihn sicher nicht leicht, in der BRD eine adäquate Arbeit zu finden. Aber prompt bekommt er von einem gesagt, er könne doch in seinem ursprünglich erlernten Beruf des Chemiefacharbeiters arbeiten. »Der Epilog zu jenem Nachmittag vor der Burg des Blutsaugers, wo unser freundlicher Landsmann so ganz selbstverständlich den Doktor der Indienwissenschaft als Chemiefacharbeiter anheuern wollte, ist übrigens recht durchschnittlich. Lars wurde arbeitslos. Dass er in die DDR zurückkehrte, deren Tage damals schon gezählt waren, hat ihm nichts genützt.«

Matthias Krauß: »In eins gepalten. Sind wir wirklich ein Volk?«. Das Neue Berlin, 189 S., br., 15 €.

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