Ein kurzer Moment der Hoffnung

Nach einem historischen Sieg gegen die Kolonialmacht Spanien gründete sich 1921 im Norden Marokkos die unabhängige Rif-Republik. Die wurde mit Giftgas aus deutscher Produktion niedergeschlagen - und inspirierte doch antikoloniale Kämpfe in aller Welt

  • Reiner Tosstorff
  • Lesedauer: 7 Min.

Eine solche Niederlage war für eine europäische Kolonialmacht kaum vorstellbar. Zumal sie nicht von einem Staat mit regulären Strukturen und einer konventionellen Armee kam, sondern von einem lockeren Zusammenschluss von Stämmen. Fast alle spanischen Soldaten, weit über Zehntausend, kamen im Juli 1921 um - auf dem Eroberungszug im Herzen des sich durch Nordmarokko ziehenden Rif-Gebirges beim Ort Annual, knapp einhundert Kilometer westlich der spanischen Enklave Melilla. Der Sieg der gegen die Spanier kämpfenden Berberstämme war weit mehr als ein lokales Ereignis. Er fand ein großes internationales Echo in einer Zeit des ersten Aufschwungs antikolonialer Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg. Insbesondere in der islamischen Welt kam es zu einer Auflehnung gegen die europäischen Aufteilungs- und Herrschaftspläne, so bei den Türken unter Kemal Pascha oder bei den Afghanen.

Beim Rif handelte es sich um den nördlichen Teil von Marokko. Es war formal keine Kolonie, sondern ein »Protektorat« mit einem weiterhin herrschenden Sultan, der allerdings seine Souveränität nach außen hin hatte abgeben müssen. Dies war das Ergebnis von Absprachen zwischen den imperialistischen Mächten angesichts der strategischer Bedeutung Marokkos am Ausgang des Mittelmeers. Hinzu kamen Vermutungen über große Rohstoffschätze vor allem in den Bergen des Rif, die auf deutscher Seite beispielsweise die Begehrlichkeiten der Brüder Mannesmann geweckt hatten.

Europäische Kolonialpolitik

Im Jahre 1912 übernahm Frankreich den größten Teil Marokkos. Der dem britischen Stützpunkt Gibraltar gegenüberliegende Norden mit dem Rif als Kernstück ging an Spanien. Deutschland wurde mit Gebieten in Schwarzafrika abgefunden. Für die spanische Monarchie, die 1898 ihre letzten Kolonien verloren hatte, kam dieser Zugewinn sehr gelegen und sah sich auf dem Wege zurück zur Großmacht. Tatsächlich war der Blick schon seit dem 19. Jahrhundert auf Nordafrika gerichtet, zumal angesichts der jahrhundertealten Enklaven Ceuta und Melilla, die praktischerweise geografische Eckpunkte im Westen und Osten an der Mittelmeerküste Marokkos markieren.

Doch die Zuteilung von Herrschaftsbefugnissen durch die europäischen Mächte bedeutete keineswegs die Durchsetzung der Oberherrschaft über die dortigen Berberstämme mit eigener Sprache und besonderen Traditionen gegenüber dem arabischen Großteil des Landes. Es ging vor allem um die Erschließung des Rohstoffabbaus etwa durch die Einrichtung von Verkehrswegen. Dies wollte Spanien zunächst durch Subventionen an die Stämme erreichen.

Unter ihren Anführern ragte Mohammed ibn Abdelkrim el-Khattabi, kurz Abdelkrim, heraus. Geboren 1882 in Ajdir im Zentrum des Rif in der Familie eines Kadis, eines islamischen Richters, genoss er neben der traditionellen Ausbildung auch den Vorteil eines Studiums in Spanien. Er repräsentierte eine Generation regionaler Eliten, die sich zunächst vom Kontakt mit der entwickelteren Kolonialmacht Fortschritt für ihr Land erhofften. Das stellte sich schnell als illusionär heraus. Von den einsetzenden Repressionsmaßnahmen wurde auch Abdelkrim nicht verschont. Spanien entwickelte in der Folge eine Strategie der militärischen Durchdringung. So begann der von Madrid entsandte General Silvestre, ein enger Vertrauter des spanischen Königs, Anfang 1921 einen langsamen Vorstoß von Melilla nach Westen zum Kerngebiet des Rifs. Dabei setzte man Kampfflugzeuge ein, die auch Ortschaften und gezielt die Zivilbevölkerung angriffen.

Militärische Antwort

Als der spanische Heerzug beim langsamen Vorrücken seine Kräfte weit überdehnte, schlugen die Stammeskrieger zu. In unbekanntem Gelände, ohne gesicherte rückwärtige Versorgungslinien und auf Befestigungen ohne ausreichende Brunnen angewiesen, gerieten die Spanier in die Falle der mit dem Gelände bestens vertrauten Guerillakämpfern. Mitte Juli 1921 in Annual, am vordersten Punkt ihres Vormarschs und etwa 50 Kilometer vom Ziel Ajdir entfernt, leitete Silvestre den Rückzug ein. Er endete in der totalen Niederlage. Die besiegten spanischen Soldaten wurden nicht geschont, was Abdelkrim später in seinen einem französischen Journalisten diktierten Memoiren bedauerte: Er habe die Wut der Kämpfer nach den Flugzeugangriffen nicht bändigen können.

Für die spanische Kriegspropaganda stellte das »Desaster von Annual« eine gefundene Gelegenheit dar, das Bild eines unzivilisierten Angreifers zu zeichnen. Dies beinhaltete die Mobilisierung des islamischen Feindbilds, ohne Recht darauf, sich kolonialer Unterwerfung zu verweigern. Eine Untersuchung in Spanien förderte allerdings militärische Inkompetenz und weit verbreitete Korruption unter den Truppen zutage, was immer wieder gedeckt worden war. Verantwortlichkeiten reichten bis in den Königspalast. Dies destabilisierte die Regierung und war damit eine der Ursachen für die im September 1923 errichtete Militärdiktatur unter General Primo de Rivera.

Abdelkrim konzentrierte sich nun auf die Zusammenarbeit der Stämme. Im September 1921 schlossen sich die meisten von ihnen zu einer Republik des Rif zusammen. Zwar war die wirtschaftliche Basis äußerst schwach, aber sollte nicht der Bergbau bald Gewinne bringen? Selbst wenn vieles über die endgültige Struktur der Republik offenblieb, etwa das genaue Verhältnis zu Marokko, war ein Anfang gemacht, der auch international Aufmerksamkeit erregte. Man wandte sich an den Völkerbund. Doch dieser, ganz in der Hand der europäischen Kolonialmächte, machte umgehend klar, dass von seiner Seite aus keine Unterstützung zu erwarten war.

Giftgaseinsatz gegen Rif-Republik

Während Abdelkrim um die Errichtung staatlicher Strukturen bemüht war und sich seine Kämpfer in einen »Abnutzungskrieg« mit den Spaniern verwickelten, griffen diese zur fürchterlichsten Waffe, die seit dem Ersten Weltkrieg zur Verfügung stand: das Giftgas. Durch Kontakte mit Deutschland gelang der Erwerb entsprechender Vorräte und sogar Kenntnissen für eine eigene Produktion. Deutschland hatte zwar im Versailler Friedensvertrag auf Giftgas verzichten müssen. An diese Verpflichtung hielt sich die Reichswehr aber nicht - ein klarer Vertragsbruch.

Etwa 500 Tonnen Giftgas sollen im Kampfgebiet abgeworfen worden sein - eine Gewalttat, die bis heute nicht wirklich aufgearbeitet ist. Heutige soziale Bewegungen weisen seit langem auf eine im Vergleich zum gesamten Land hohe Krebsrate im Rif hin. Das lässt vermuten, dass noch immer Giftgasüberreste in den Böden vorhanden sind. Doch die geforderten Untersuchungen wurden durch den marokkanischen Staat noch immer nicht vorgenommen. Dabei ist klar, dass sich im - durchaus wahrscheinlichen - Fall der Bestätigung von Hinterlassenschaften des Giftgaseinsatzes auch Entschädigungsforderungen an Deutschland stellen, denn es war die Reichswehr der Weimarer Republik, die völkerrechtswidrig den Einsatz ermöglicht hatte.

Die Zivilbevölkerung wurde zielgerichtet angegriffen, etwa durch den Abwurf von Giftgasgranaten auf Felder oder Marktplätze. Zur Lebensmittelbeschaffung wichen die Rif-Kämpfer nun nach Süden aus. Der aber war französisch kontrolliertes Gebiet - eine unvermeidliche Provokation der weitaus stärkeren Kolonialmacht. Damit wurden die bis dahin eher abwartenden Franzosen Bündnispartner Spaniens und man begann mit gemeinsamen Militäroperationen. Zur Leitung der französischen Seite wurde Marschall Pétain entsandt, der Sieger von Verdun und spätere Kollaborateur der Nazis.

Eine Niederlage mit Folgen

Zwischen 1925 und 1926 wurde die Rif-Republik niedergeschlagen. Trotz internationaler Solidaritätskampagnen zum Beispiel der französischen Kommunisten, denen gegenüber Abdelkrim als Muslim allerdings Abstand wahrte, und bei insgesamt abwartender Haltung der internationalen Sozialdemokratie, blieb den Kämpfern der Rif-Republik schließlich nichts anders übrig, als sich Ende Mai 1926 den Franzosen zu ergeben. Von ihnen erwartete Abdelkrim mehr Rücksicht als von den Spaniern. Und tatsächlich wurde er »nur« auf eine französische Kolonie im Indischen Ozean verbannt. 1947 frei gelassen, ging er ins Exil nach Kairo, von wo er für die Unabhängigkeit Nordafrikas eintrat. Nach der Unabhängigkeitserklärung Marokkos im Jahre 1956 lehnte er aber die Einladung zur Rückkehr durch den König Mohammed V. ab, weil dieser die Verbindungen zu Frankreich aufrechterhielt. Abdelkrim starb 1963 - hochgeschätzt als Symbol des antikolonialen Befreiungskampfs. Viele Guerillabewegungen, von Mao Zedong bis Che Guevara hatten ausdrücklich erklärt, durch die Methoden des Kampfs im Rif inspiriert worden zu sein.

Allerdings hatte es noch eine besondere Folge der Niederlage gegeben: Unter fester Kontrolle durch die spanischen Kolonialtruppen wurden ab 1927 die konservativen Stammesstrukturen und insbesondere der islamische Klerus im Rif gestärkt. Die Republik in Spanien seit 1931 war zu sehr von innenpolitischen Konflikten in Beschlag genommen und versäumte es, sich um ein inzwischen scheinbar »ruhiges« Protektoratsgebiet zu kümmern. Das rächte sich, als es 1936 den wichtigsten Ausgangspunkt für den Putsch unter Führung General Francos darstellte, der dort in den 1920er Jahren seine ersten militärischen Erfahrungen gemacht hatte. Er konnte ungehindert marokkanische Söldner für den Kampf in Spanien rekrutieren.

Mit der Unabhängigkeit Marokkos musste sich Spanien 1956 in die Enklaven Ceuta und Melilla zurückziehen. Die großen Erwartungen bezüglich neuer Entwicklungen sollten sich allerdings bald zerschlagen, das Rif-Gebiet ist weiterhin stark vernachlässigt. Nachdem 2011 ganz Marokko vom »Arabischen Frühling« erschüttert wurde, dem dann einige Zugeständnisse des Königs folgten, aber keine wirkliche Entwicklungspolitik für den Norden, kam es dann 2016/17 im Rif zu einer großen Protestwelle, dem »Hirak«. Dabei spielte die Berufung auf die Rif-Republik und die eigenständige Kultur der Berberstämme (insbesondere die Verwendung ihrer Sprache) eine wichtige Rolle, verstärkt auch durch eine personelle Verbindung mancher Anführerinnen und Anführer: als Angehörige der Enkelgeneration der Kämpfer aus den 1920er Jahren.

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