Aus Angst vor Abschiebung in den Suizid getrieben

Neues Update der Dokumentation »Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen« erschienen

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 22. März 2020 soll ein 25-jähriger Afghane von der Polizei abgeholt und abgeschoben werden. Er springt aus dem dritten Stock der Sammelunterkunft im sächsischen Plauen in die Tiefe und wird mit schweren Verletzungen an Rücken und einer Hand ins Helios-Klinikum Vogtland gebracht werden. Auch nach langer stationärer Behandlung muss er weiter seine Abschiebung fürchten, obwohl er bereits fünf Jahre in Deutschland ist.

Dies ist eines von Tausenden Einzelschicksalen, die in der soeben erschienenen 28. Ausgabe der alljährlich aktualisierten Dokumentation »Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen« aufgelistet sind. In der neuen Edition richten die Aktivist*innen der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI), die sie bereits seit 1993 erstellt, ihren Fokus auf Suizide, Suizidversuchen und Selbstverletzungen Geflüchteter.

Viele weitere erschütternde Fälle sind in der inzwischen mehrbändigen und auf 1274 Seiten angewachsenen Dokumentation festgehalten. So der eines weiteren afghanischen Geflüchteten, der sich am 10. April 2020 in Chemnitz das Leben nahm. Und der einer 55-Jährigen aus Bosnien-Herzegowina und eines 44-Jährigen aus Togo, die sich am 23. und 27. April vergangenen Jahres selbst töteten. Sie alle hatten in Deutschland Schutz gesucht und auf ein besseres Leben gehofft.

»Es ist oft die existenzielle Angst vor einer Abschiebung oder die absolute Verzweiflung über eine zerstörte Lebensperspektive, die die Menschen als letzten Ausweg zur Selbsttötung treibt«, sagt Elke Schmitt vom Dokumentationsteam. Andere kommen bei der Flucht vor einer drohenden Festnahme zu Tode, weil sie in Panik nicht auf die Gefahren achten. Das absolute Abschiebeinteresse der Behörden zeigt sich auch am Fall des pakistanischen Journalisten Muhammad Azhar Shah. Mit zwei Suizidversuchen wollte er einer Abschiebung entgehen. Nachdem er aus der Abschiebehaft entlassen worden war, schöpfte er vergeblich Hoffnung. Wenige Wochen später wurde er erneut festgenommen und am 18. Januar 2021 mitten in der Corona-Pandemie vom Flughafen Frankfurt/Main nach Pakistan abgeschoben.

Nach seiner Ankunft wurde er sofort verhaftet. Nachdem Freund*innen seine Freilassung erreichten, muss er nun versteckt leben. Für die deutschen Behörden war er nur eine Akte, die mit der Abschiebung zu den erledigten Fällen gepackt wurde. Das ARI-Team sorgt dafür, dass Schicksale wie seines eben nicht vergessen werden.

»Geflüchtete begehen Suizidversuche oder verletzten sich selbst, um aus den aktuellen Situationen herauszukommen oder immer wieder auch aus Protest gegen menschenfeindliche Behandlungen und Unterbringung«, sagt Elke Schmitt.

Sie hat das Projekt 1993 mit einer Mitstreiterin gestartet. Damals hatte sich der Onkel eines verschwundenen tamilischen Flüchtlings an die ARI gewandt. Sie forschten nach und fanden heraus, dass der Mann mit acht anderen tamilischen Flüchtlingen beim Grenzübertritt in der Neiße ertrunken war. Mit einem Filmteam machte die ARI damals seinen Tod öffentlich. Seitdem sammelt die kleine Gruppe Engagierter Nachrichten über Todesfälle, Misshandlungen und Gewalt, die in direktem Zusammenhang mit der deutschen Flüchtlingspolitik stehen.

Auch nach 28 Jahren ist das Projekt leider noch immer aktuell, wie die neue Ausgabe zeigt: Allein für das Jahr 2020 hat sie 48 Fälle von Selbstverletzungen und -tötungen und versuchten Suiziden festgehalten.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung jährt sich der Todestag von Ferhat Mayouf zum ersten Mal, der am 23. Juli 2020 an den Folgen von Verbrennungen starb. Ein Feuer war in seiner Zelle in der JVA Berlin-Moabit ausgebrochen, wo er nach einem Diebstahl in Untersuchungshaft saß. Laut Dokumentation hatte der algerische Geflüchtete drei Tage vor seinen Tod bei einem Haftprüfungstermin um die Einweisung in ein Haftkrankenhaus gebeten. Er litt an Depressionen und zeigte Schnittwunden am Bauch, die er sich selbst zugefügt hat. Obwohl die verantwortliche Richterin die Bitte des Gefangenen in das Haftblatt aufnahm, das mit den Gefangenen in die JVA zurückgebracht wurde, verblieb Mayouf in seiner Zelle.

Dokumentation online: www.ari-dok.org

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