Anarchie in Perfektion

In Tokio feiert Skateboarding Olympiapremiere. Mit urbaner Improvisation hat die Trendsportart jedoch nicht mehr viel zu tun

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer durch die Innenstadt von Tokio läuft, fast egal wo in dieser Riesenmetropole, wird einer besonderen Menschengruppe so gut wie nie begegnen: Skateboardern. Im für seine Größe von rund 37 Millionen beeindruckend stillen und geordneten Ballungsraum ist nie dieses typische scheppernde Rollen zu hören, kein Jubeln nach einem gelungenen Trick und auch keine durch Lautsprecher gehämmerte Musik. Man müsste denken, Tokio sei die einzige Metropole der Welt, die zwar hochwertigen Asphalt hat, aber keine Skaterkultur.

Dass es sehr wohl Skateboarder in Japan gibt - und dazu noch sehr gute, lernt die Welt dieser Tage. Tatsächlich gewann der 22-jährige Weltmeister Yuto Horigome am Sonntag die erste Goldmedaille. Bei den Spielen von Tokio gehört Skateboarding, dessen Ursprünge in den 1960er Jahren der USA liegen, erstmals zum Wettkampfprogramm. Neben den ebenfalls neueingeführten Disziplinen Klettern, 3x3-Basketball und Surfen zählt für das Internationale Olympische Komitee auch das Skateboard zu den Hoffnungsträgern, um ein jüngeres Publikum für die größte Sportveranstaltung der Welt zu begeistern - als Zuschauer und als aufstrebende Athleten.

Drei von vier Goldmedaillen für Skater werden noch vergeben, für Frauen und Männer gibt es je zwei Medaillensätze: im Park und auf der Straße, dem sogenannten Street-Wettbewerb. Die Athleten führen dabei Figuren vor, um dafür von einer Jury möglichst viele Punkte zu erhalten. Wobei vor allem den Skatern, die für Japan starten, gute Chancen ausgerechnet worden waren. Bei den Frauen gehört die 19-jährige Aori Nishimura, wie Horigome Weltmeisterin, ebenfalls zu den Favoritinnen. Sie tritt an diesem Montag an.

Sollten es nun vor allem japanische Athleten sein, die bei der Olympiapremiere des Skateboarding Gold gewinnen, wird das für die Sportart auf gewisse Weise ein Kulturschock. Horigome und Nishimura ist eine blitzsaubere Technik anzusehen, die von großem Fleiß zeugt. Der von ihnen geprägte Stil zeichnet sich durch eine Art Perfektion aus, die man schon aus japanischen Kampfsportarten kennt.

Das passt zur geschmeidigen Unsichtbarkeit der Skateboardszene in Japan. Wer in Tokio auf dem Weg zu einem der meist gut versteckten Skaterparks ist, fährt nicht etwa auf dem Board über den Gehweg oder gar auf der Straße. Man trägt einen großen Rucksack auf dem Rücken, in den möglichst das ganze Board passt, damit niemand es sehen kann. Als Skateboarding um die 90er Jahre nach Japan kam, galt das Hobby schnell als Beschäftigung schlecht erzogener Kinder oder Jugendkrimineller. Und in einer Gesellschaft, in der es als äußerst wichtig gilt, was andere von einem denken, wollen die jungen Boardliebhaber nicht unangenehm auffallen.

Es ist das krasse Gegenteil zur Szene in Europa, wo Skateboards zu einer ähnlichen Zeit modern wurden. Aus TV-Serien der USA waren zerzauste Frisuren, zerrissene Hosen und zu große T-Shirts bekannt. Und man versuchte sie zu imitieren. Mit einem Board unter den Füßen zeigte die Jugend ihren Eltern, dass sie sich nichts sagen lassen wollte. Skateboarding war der kalkulierte Regelbruch.

Mit anarchischer Einstellung entwickelte sich die Subkultur auch an ihrem Ursprungsort Kalifornien nicht nur als Lifestyle, sondern auch als Kunstform. »Wir waren einfach Kids, die nachmittags am liebsten Spaß haben wollten«, erinnert sich Tony Hawk, früher Star der Skaterszene. So wurden die Flips, Ollies und Spins von Jugendlichen erfunden, die sich nach der Schule draußen die Zeit vertrieben und dabei nicht selten absichtlich die Hausaufgaben vergaßen. »Aber in Japan hat sich die Szene eben ein bisschen anders entwickelt«, so Hawk, der weiß, dass es im olympischen Gastgeberland vor allem brav und bemüht unauffällig zugeht. »Ist ja auch cool.« Wobei die Aufnahme von Skateboarding ins Olympiaprogramm auch Kritik hervorruft. Schließlich wird auf diese Weise ein einst völlig freies Hobby in ein Regelwerk gegossen, das es zu befolgen gilt, wenn man eine Medaille gewinnen will.

Den japanischen Gastgebern kommen die eng definierten Regeln zugute. »Ich habe wirklich im Rahmen meiner Möglichkeiten alles gegeben und bin so froh, dass es gereicht hat«, sagte Goldmedaillensieger Yuto Horigome am Sonntag. Wobei mit diesen begrenzten Möglichkeiten bei Olympia das Skateboarding ein gutes Stück seiner einstigen Anarchie verlieren könnte.

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