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Die lange Ankunft
Zwei Geschwister aus Syrien finden in Deutschland wieder zueinander - doch der Schwester fällt die Integration schwer
Für einen kurzen Moment war da eine Ungewissheit, ehe die Emotionen sich ihren Weg bahnten. Wer ist sie? Ist es diese Frau? Oder doch diese? Etwa sechs Jahre war es her, dass Mohammed seine Schwester das letzte Mal gesehen hatte, als er am Flughafen in Berlin stand und auf sie wartete.
»Ich habe sie erst gar nicht erkannt«, sagt er über diesen Augenblick im Januar 2021, der darin endet, dass sie doch noch zueinanderfinden. Sie erinnert sich ebenso wie er noch immer gut daran. »Es war ein schöner Moment.« Ihr erster Gedanke, als sie ihren jüngeren Bruder nach so langer Zeit wiedergesehen hat, war: »Er ist ein bisschen groß geworden.« Mitte 20 ist er jetzt.
Unabhängig vom Streit über ein eigenes Thüringer Landesaufnahmeprogramm für Flüchtlinge, die in griechischen Lagern festsitzen, gibt es im Freistaat schon seit September 2013 eine Landesaufnahmeanordnung, wonach in Thüringen lebende syrische Flüchtlinge unter bestimmten Voraussetzungen Verwandte nach Deutschland nachholen können. »Zu den wesentlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Grundlage der Aufnahmeanordnung gehört, dass die syrischen Flüchtlinge infolge des Bürgerkriegs aus ihrem Wohnort geflohen sind und sich in einem Anrainerstaat Syriens oder noch in Syrien aufhalten«, erklärt dazu das Migrationsministerium des Freistaats. Ihre in Deutschland lebenden Verwandten müssten zudem im Besitz eines Aufenthaltstitels sein und sich mindestens seit einem Jahr in Deutschland aufhalten. »Zudem müssen sie jeweils seit mindestens sechs Monaten in Thüringen ihren Hauptwohnsitz oder alleinigen Wohnsitz haben.« Außerdem müsse für jeden einzelnen nachzuholenden Verwandten eine Bürgschaft abgegeben werden - entweder von dem Syrer selbst, wenn er wirtschaftlich stark genug ist, oder von Dritten, die ihn unterstützen.
Nach Angaben des Migrationsministeriums sind über dieses Programm bislang schon mehr als 1200 Visa für Syrer erteilt worden. Man kann davon ausgehen, dass die meisten dieser Visa auch für Einreisen benutzt wurden. In wie vielen dieser Fälle die Bürgen für die Lebenshaltungskosten der Menschen einspringen mussten, wird statistisch nicht erfasst. sha
Um zu ermessen, welche seelische Last in diesem Moment von ihnen allen abgefallen ist, muss man sich vergegenwärtigen, welche Anstrengung nötig war, damit es zu diesem Wiedersehen am Flughafen kommen konnte.
Mohammed - der in Wirklichkeit anders heißt -, seine Schwester, ihre drei Kinder haben lange auf diese Familienzusammenführung gewartet. Und ohne Hilfe von Michael Gerner, ein Polizist aus Ostthüringen, wäre dieser Moment kaum möglich gewesen. Geradezu befreit habe auch er sich im Januar gefühlt, sagt Gerner. Als er wusste, dass ein Teil von Mohammeds Familie sicher in Deutschland angekommen war, sei er plötzlich ganz entspannt gewesen.
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Jahrelang hatten Mohammed und Gerner auf diesen Moment hingearbeitet. Sie wollten Mohammeds Schwester und ihre Kinder aus dem Bürgerkriegsland Syrien sicher nach Deutschland holen - auf legalem Weg über ein thüringisches Landesprogramm zur Familienzusammenführung. Ein Schreiben nach dem anderen hatten sie deshalb aufgesetzt. Gerner, der mit seinem Vermögen und Einkommen für den Unterhalt der Familie bürgt, hatte unendlich viele Telefonate geführt.
Im Mai 2020 schien es endlich zu klappen, der Flug der Familie nach Deutschland war schon gebucht, eine Wohnung in Jena für sie war bereits eingerichtet. Doch wegen der Coronakrise platzte der Termin, die Reise wurde abgesagt. Was blieb, war nur die Hoffnung, dass es später doch noch klappen könnte.
Von ihrer Heimat in Syrien aus war die Mutter mit ihren Kindern durch ein vom Krieg gezeichnetes Land ins libanesische Beirut gereist, von dort aus ging es mit dem Flugzeug nach Deutschland. Zurückgelassen hat Mohammeds Schwester dabei unter anderem die Eltern und ihren ältesten, bereits volljährigen Sohn.
Nun, da die Familie seit etwa einem halben Jahr in der Plattenbauwohnung in Jena lebt, erleben sie alle allerdings auch, dass die Ankunft von Mohammeds Schwester nur ein kurzzeitiges Happy End war. Als die Euphorie über das Wiedersehen und die geglückte Familienzusammenführung abflaute, wurde ihnen bewusst, dass es noch ein langer Weg ist, bis sie alle sich in Deutschland wirklich zu Hause fühlen werden.
Zwar ist Mohammed, der Ende 2015 nach Deutschland gekommen war, inzwischen bestens integriert. Er wird zum Optiker ausgebildet, hat seine Zwischenprüfung bereits erfolgreich bestanden und ist bei Kollegen wie Kunden angesehen. Auch die Kinder von Mohammeds Schwester haben sich inzwischen einigermaßen in der Schule eingelebt. Sie hätten inzwischen Freunde dort gefunden, sagen sie. »Auch wenn es natürlich mit dem Unterrichtsstoff oft seine Zeit dauert.« Gerade in der Coronakrise. Doch besonders ihrer Mutter fällt es derzeit noch schwer, in diesem für sie fremden Land anzukommen.
Der Schlüssel dafür, dass sich sowohl die Kinder als auch Mohammeds Schwester ähnlich gut wie er selbst in Deutschland zurechtkommen, ist freilich die Sprache. Einerseits erscheint das wie eine triviale Weisheit, weil das seit Jahren immer und immer wieder gesagt und geschrieben worden ist, wenn es um die Integration von weither geflüchteten Menschen geht.
Andererseits zeigt aber das Beispiel von Mohammeds Familie einmal mehr und deutlich, wie schwierig es ist, diesem Anspruch auf Integration gerecht zu werden. Nicht nur, weil es oft gar nicht so einfach für Flüchtlinge ist, in die entsprechenden Deutschkurse hineinzukommen. Das braucht mitunter auch Eigeninitiative, und für Menschen, denen die Sprachkenntnis fehlt, kann das ein Hemmnis sein. Zudem sind die Deutschkurse oft nur ein kleiner Baustein beim Spracherwerb. Vor allem brauchen diese Menschen nämlich Alltagskontakte, um Deutsch zu sprechen, was durch die Coronakrise mit ihren Kontaktbeschränkungen zuletzt überhaupt nicht einfach umzusetzen war.
Gerner formuliert das so: »Ohne die Sprache können wir hier machen, was wir wollen, es wird nicht reichen.« Ein selbstständiges Leben zu führen, ist dann kaum möglich. So werde sich beispielsweise der Plan, der künstlerisch immens begabten Tochter von Mohammeds Schwester einen Job im Designbereich zu besorgen, kaum verwirklichen lassen, wenn sie nicht gut Deutsch spreche.
Auch für Mohammed wird die Belastung hoch bleiben, solange seine Schwester sich nicht wirklich auf Deutsch verständigen kann. Bislang übersetzt er nämlich fast jedes Wort, das zwischen Gerner und ihr gesprochen wird. Nur mit den Kindern kann sich der Helfer inzwischen schon ganz gut auch ohne ihn verständigen. Für die nächsten Monate hat er deshalb vor allem einen Plan für die Familie ausgegeben, der aus drei Wörtern besteht: Deutsch, Deutsch, Deutsch.
Wenn Gerner, Mohammed und auch dessen Schwester aus ihrem Familienalltag, über das Deutschlernen und auch über viele andere Kleinigkeiten erzählen, dann wird schnell klar, dass die Integration auch für diese Familie eine noch größere Aufgabe ist, als sich alle Beteiligten das wohl vorgestellt haben. Wer Kopftuch trägt, wird selbst im weltoffenen Jena bisweilen komisch angeschaut. Damals, als es zunächst darum ging, die Schwester und die Kinder aus Syrien herauszuholen, war diese Anstrengung noch nicht abzusehen.
»Es ist schon so, es fliegt hier keinem was zu« - diesen Satz sagt Gerner irgendwann in seinen Schilderungen. Das klingt ernüchternd. Später erklärt er noch: Natürlich würden viele Flüchtlinge von einem Studium in Deutschland träumen. »Aber wenn wir ehrlich sind, dann sehen wir gerade, dass es für viele von ihnen schon ein ganz harter Brocken wird, eine Berufsausbildung zu schaffen.«
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Aber auch am Umgang vieler Behörden mit Zuwanderern habe sich seit 2015/2016, als viele Tausende über die Balkanroute und das Mittelmeer nach Mitteleuropa flüchteten, nicht wirklich etwas geändert, sagt der Polizist - und nach seinem Empfinden schon gar nicht zum Besseren. Das mache sein ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe auch nicht gerade leichter. Ärger mit den Ämtern sei ebenso Alltag wie es die Deutschlernversuche seien, sagt Gerner. »Gerade die Ausländerbehörden haben viel Spielraum, aber der wird ganz unterschiedlich genutzt.« Statt bei der Integration der Angekommenen zu helfen, würden manche Sachbearbeiter eher als Integrationsverhinderer auftreten.
Bedauern oder gar Reue, die Vier aus dem Bürgerkrieg herausgeholt zu haben, schwingt allerdings weder bei Gerner noch bei den anderen Unterstützern der Familie mit, wenn sie von derartigen Schwierigkeiten sprechen. Denn die Alternative dazu, den beschwerlichen Weg der Integration in Deutschland zu gehen, wäre für sie alle das Leben mit der Aussicht auf einen gewaltsamen Tod gewesen. Der Mann von Mohammeds Schwester starb in einem syrischen Gefängnis. Sie vermuten, dass sie von Handlangern des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad ermordet wurden.
Bis heute sind nach Angaben von Hilfsorganisationen Hunderttausende Menschen im syrischen Bürgerkrieg gestorben, der seit inzwischen zehn Jahren tobt. Die Schätzungen reichen von etwa 400 000 bis zu etwa 600 000 Toten. Wirklich verlässliche Zahlen gibt es nicht. Sicher ist nur eines, dass unter diesen Toten auch Zehntausende Kinder sind.
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