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Erst kommt das Essen
Quitandeiras, Verkäuferinnen von Street Food, prägten die brasilianischen Stadtgesellschaften des 19. Jahrhunderts - wie Rio de Janeiro. Sie ernährten die »Zweite Sklaverei«, ihre Spuren finden sich bis heute
Im März 1878 kochte in Rio de Janeiro ein Thema hoch, das auch gegenwärtige Diskussionen um urbane Räume und die zukünftige Entwicklung von Großstädten rund um den Globus bestimmt. Rapide ansteigende Mietpreise drohten soziale Spannungen zu verschärfen und wurden zu einer zunehmenden Bedrohung der ökonomischen Modelle kleinerer Geschäfte und damit der Lebensgrundlage etwa von Verkäuferinnen und Verkäufern auf den Märkten der Stadt. So prangerte am 29. März 1878 in der lokalen Tageszeitung »Jornal do Commercio« eine Gruppe von Verkäuferinnen und Verkäufer von Street Food die Folgen der steigenden Mieten an, die sie für ihre Verkaufsstände zu entrichten hatten. Eine von ihnen war Emilia Soares do Patricino.
Emilias Lebensgeschichte war einerseits außergewöhnlich. Über Jahrzehnte hatte sie sich mit zunehmendem Erfolg im Handel von Gemüse und Geflügelfleisch auf den Straßen der wachsenden Stadt engagiert und war dabei zu beträchtlichem Wohlstand gelangt. Zu Beginn ihres Lebens war diese Entwicklung kaum zu erahnen gewesen. Irgendwann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das genaue Jahr lässt sich nicht mehr ermitteln, war Emilia von westafrikanischen Sklavenjägern entführt, weiterverkauft und über den Atlantik nach Brasilien verschleppt worden. Dort hatte sie fortan als eine von schätzungsweise 50 000 (Stand: 1872) Sklavinnen und Sklaven zu arbeiten, die zum Teil in den Straßen und Haushalten Rio de Janeiros lebten. Im Jahr 1839 gelang es Emilia, sich ihre Freiheit zu erkaufen, woraufhin sie ihr eigenes Geschäft gründete. Dieses lief offenbar erfolgreich: Als sie 1885 starb, hinterließ sie ihren Kindern drei Häuser, 20 eigene Sklaven sowie beträchtliche Mengen an Schmuck und Bargeld. Auf einen derartigen Aufstieg konnten an ihrem Lebensende nur wenige der Frauen und Männer zurückblicken, die im 19. Jahrhundert gezwungen wurden, ihren Weg über den Atlantik in die Amerikas anzutreten.
Zugleich treten, andererseits, in Emilias Biografie verschiedene Entwicklungslinien hervor, die auf charakteristische Besonderheiten dieser dynamischen Epoche verweisen. Emilia war eine Quitandeira, eine Straßenverkäuferin, wie sie im 19. Jahrhundert typisch für das Straßenbild Rios wurden und dieses bis in die Gegenwart hinein prägen. Das Wort Quitandeira, das eigentlich »zu verkaufen« bedeutet, stammt aus dem westafrikanischen Kimbundu und verweist bereits auf die prägenden kulturellen Einflüsse, die die Millionen von Menschen, die zwangsweise aus Westafrika nach Brasilien gekommen waren, nach Rio de Janeiro mitbrachten. Zudem eröffnet ihre Lebensgeschichte eine Perspektive auf den Handel mit und den Besitz von versklavten Menschen in Brasilien jenseits der Plantagensklaverei, die das Bild dieses Kapitels der (süd-)amerikanischen Geschichte bis heute prägt. Schließlich berührt die Geschichte einer Straßenverkäuferin im Rio de Janeiros des 19. Jahrhunderts und anderer Quitandeiras weitere Fragen, etwa nach Kontinuitäten und fluiden Übergängen zwischen Kapitalismus und Sklaverei.
Rio de Janeiro und die »Zweite Sklaverei«
Auch die eingangs erwähnten steigenden Mietpreise hingen mit langfristigeren Entwicklungen zusammen, die die atlantische Welt und besonders Brasilien im 19. Jahrhundert erfassten. Die Bevölkerung Rio de Janeiros wuchs in einem enormen Tempo, von etwa 50 000 Menschen im Jahr 1808 auf über 200 000 zur Mitte des Jahrhunderts. Dieses rasche Wachstum war für viele Städte im 19. Jahrhundert nicht untypisch, hatte im Falle von Rio allerdings noch einen besonderen Hintergrund: die Einbindung der Stadt in das außerordentlich florierende System der »Zweiten Sklaverei«. Dieses war nach dem auf britischem Druck hin zustande gekommenen weitgehenden Verbot des transatlantischen Sklavenhandels entstanden. Seit dem Jahr 1831 war es verboten, weitere Sklaven etwa aus Westafrika über den Atlantik auf den amerikanischen Kontinent zu verschleppen. Schiffe der britischen Marine kreuzten vor der afrikanischen Küste, um über die Einhaltung dieses Abkommens zu wachen, doch hielt sich der Erfolg in Grenzen. Bis mindestens 1850 erreichten jährlich Sklavenschiffe mit Tausenden von Menschen allein die Häfen Brasiliens, im 19. Jahrhundert insgesamt waren es neueren Forschungen zufolge 2,1 Millionen Menschen.
Ein Zentrum dieses Geschäfts war Rio de Janeiro. Die zentrale Rolle der Stadt hing auch mit den äußerst profitablen Kaffeeanbaugebieten in Zentral- und Südbrasilien zusammen, wo die Fläche der Plantagen, vor allem im Vale do Paraíba, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts enorm ausgeweitet wurden. Der Konsum von Kaffee war bereits im 18. Jahrhundert auch in Europa und Nordamerika weit verbreitet, erreichte jedoch im 19. Jahrhundert bis dahin ungeahnte Höhen. Dabei fungierte besonders Rio de Janeiro als wichtiges Bindeglied zwischen dem brasilianischen Hinterland und der weiten Welt, die durch den Hafen zum Atlantik eröffnet wurde.
All dies hatte erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der Stadt und ihrer Gesellschaft - nicht zuletzt für die Menschen, die auf den Straßen Rios Nahrungsmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs verkauften. Neben anderen Bewohnern der Stadt zählten sehr mobile Gruppen zu ihren wichtigsten Kunden. Hafenarbeiter, Seeleute und Händler hielten sich meist nur über kurze Zeit in der Stadt auf, oft in der Nähe des rapide wachsenden Hafens. Für sie und für die vielen anderen Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Straßen Rios war es nicht nur praktisch, sondern sogar notwendig, fertig zubereitete Speisen zu kaufen. Somit trugen Unternehmerinnen wie Emilia zur Versorgung einer stetig wachsenden Bevölkerung bei, die oftmals keinen Zugang zu einer eigenen Kochstelle oder gar einer Küche hatte.
Seeleute gehörten zu ihren besonders wichtigen Kunden. Nach wochenlanger Fahrt auf See mit denkbar eintöniger Bordverpflegung dürsteten die Besatzungen im wahrsten Sinne des Wortes danach, ihren Lohn für frisch zubereitetes Essen und alkoholische Getränke auszugeben. Eine weitere bedeutende Gruppe von Kunden bestand aus Sklaven, die mit großen individuellen Freiräumen und auf Basis einer Entlohnung auf den Straßen arbeiteten (den sogenannten ganhadores) sowie aus flüchtigen Sklaven. All diese Individuen verfügten zwar im Einzelnen nicht über eine große Kaufkraft, in der Summe eröffneten sich hier jedoch lukrative Geschäftsfelder. Und die Kunden hatten durchaus bestimmte Vorlieben, welche die Verkäuferinnen und Verkäufer sehr genau beobachteten, die auf einem zunehmend umkämpften Markt intensiv für ihr Geschäft warben und hierdurch das Stadtbild prägten.
Rasanter Wandel der Stadtgesellschaft
Der britische Reisende Thomas Ewbank, der Brasilien im späten 19. Jahrhundert besuchte, beschrieb anschaulich seinen Eindruck vom Leben auf den Straßen Rios. Der Lärm Londons sei eine »Bagatelle« zu dem, was er hier erlebt habe. Die Wege und Gassen seien erfüllt von dichtem Gewimmel, in dem Ewbank vor allem die Quitandeiras auffielen. Sie werden als elegante Erscheinungen beschrieben, einen Korb oder ein Tablett tragend und gekleidet in auffällig farbige Kleider, einen Turban und ein Tuch über der Schulter. Neben Darstellungen des für europäische Reisende fremdartig anmutenden Äußeren finden sich auch sexualisierte Beschreibungen der Verkäuferinnen, die bei einigen Beobachtern offenbar als Sinnbild für exotische Attraktivität standen - was auch Niederschlag in einer Reihe von literarischen Werken der Zeit fand.
Abseits dieser verzerrenden Darstellungen waren die Quitandeiras von hoher Bedeutung für die Mikroökonomie der immer bedeutenderen Handelsmetropole. Dennoch mussten sie, wie Emilia Soares, Kämpfe gegen die lokale Obrigkeit ausfechten, der das aus ihrer Sicht ungeregelte Treiben auf den Straßen und Plätzen der Stadt mitunter ein Dorn im Auge war. Anders als Sklavinnen und Sklaven auf Plantagen arbeiteten die ganhadores relativ autonom. Dafür standen sie nun stärker im Blickfeld städtischer Behörden, die danach strebten, die Unterschichten im urbanen Raum zu kontrollieren und stärker zu regulieren. Plätze und Märkte sollten in der aufstrebenden Stadt nun zunehmend eine repräsentative Funktion erfüllen, um auf ausländische Besucher und Händler wie Thomas Ewbank fortan nicht mehr den Eindruck eines reizvollen, aber exotischen Treibens, sondern den einer modernen Weltstadt zu vermitteln.
Auf diese Weise verschärfte sich der Kampf um den öffentlichen Raum. Wie im Fall von Emília Soares waren auch die Verkäufer an der Spitze der Lebensmittelverkaufshierarchie nicht immun gegen die gewinnmaximierenden Interessen privater Investoren oder des Staates. Diese verstärkten sich noch durch die in der »Zweiten Sklaverei« erzielten Gewinne, die nun in andere Kapitalanlagen wie Immobilien flossen. Gegen die Folgen dieser Bestrebungen richteten sich die Beschwerden, die Emilia und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter im »Jornal do Commercio« veröffentlichten, allerdings ohne großen Erfolg.
Ganz vertreiben ließen sich die Quitandeiras dennoch nie, die Konflikte um die Nutzung und den Besitz des öffentlichen Raumes flammten immer wieder auf und haben bis heute nichts von ihrer Relevanz verloren. Obwohl die Straßenverkäuferinnen in manchen brasilianischen Städten wie zum Beispiel Salvador da Bahia beliebte Postkartenmotive schmücken, haben sie als Nachfahren versklavter Menschen immer noch mit prekären Arbeitsbedingungen, Vorurteilen, Übergriffen und strukturellem Rassismus zu kämpfen. Ein Erfolg ihres langjährigen Kampfes um die Bewahrung ihres kulturellen Erbes war die Aufnahme des acarajé, ein Bohnengericht und bis heute eine der beliebtesten Speisen der Quitandeiras, in die Liste des immateriellen Kulturerbes durch das Nationale Institut des künstlerischen und historisches Erbes Brasiliens im Jahr 2005 - eine bedeutende Anerkennung der Geschichte und Leistungen von Sklavinnen und Sklaven wie Emilia Soares.
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