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Nach mir die Sintflut
Klimakollaps und Kapitalismus: Das doppelte Scheitern des Versprechens der bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich in Zeiten von Krisen und Katastrophen
Was für Millionen Menschen auf der Welt bereits seit geraumer Zeit eine offensichtliche Realität darstellt, die ihnen jährlich vor Augen geführt wird, konfrontierte nun im wahrsten Sinne des Wortes sintflutartig auch Hunderttausende von Menschen in West- und Süddeutschland. In den vergangenen Wochen hat die Naturkatastrophe in Gestalt des Hochwassers über hundert Menschen das Leben gekostet; viele gelten immer noch als vermisst. Das Zuhause von Tausenden Menschen in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern und Rheinland-Pfalz oder auch Österreich wurde zerstört. Die Anteilnahme am Leid der Betroffenen, Angehörigen, Hinterbliebenen und Freund*innen verpflichtet uns auch zumindest zu dem Versuch zu begreifen, was geschehen ist.
Aktuell blicken wir auf die Folgen der schlimmsten Naturkatastrophe in Deutschland der letzten Jahrzehnte. Einzig die Sturmflut in Hamburg von 1962 brachte eine höhere Zahl zu beklagender Opfer und größere Zerstörung hervor. Während gravierende städtebauliche, technisch unzureichende und teilweise schlecht gepflegte Deiche für das Ausmaß der Katastrophe von 1962 verantwortlich waren, sind die Ursachen 2021 woanders zu finden. Die aktuelle Katastrophe entspringt in zwei Weisen der bestehenden globalen kapitalistisch-staatlichen Vergesellschaftung. Einerseits ist sie Folge des kapitalistisch erzeugten Klimawandels und damit eine selbst verschuldete Krise. Und anderseits trifft sie den Normalbetrieb dieser Gesellschaft in der Gestalt einer ihr von außen entgegenkommenden Krise, die ihre Fähigkeit auf die Probe stellt, auf diese zu reagieren.
Zum ersten Aspekt wurde bereits vieles gesagt. Auch wenn es auf den ersten Blick wie eine zufällige und katastrophale Konstellation von Tiefdruckgebieten scheinen mag, warnen Wissenschaftler*innen und soziale Bewegungen wie »Fridays for Future« oder »Ende Gelände« seit Jahren davor, dass Extremwetter-Phänomene und Naturkatastrophen vermehrt auftreten werden. Das Hochwasser ist also alles andere als ein Zufall. Es handelt sich um die Folgen eines Klimakollapses, die Konsequenz einer auf fossile Energien setzende und Naturressourcen verzehrende, nicht nachhaltige Produktion, die aufgrund der inneren Logik des Kapitalismus nicht ohne Weiteres überwunden werden kann, ohne den Kapitalismus selbst zu überwinden.
In den vergangenen Jahren wurde der RWE-Tagebau Garzweiler zum Sinnbild dieser alles in die Krise treibenden Produktion in der Region. Er wurde zum Kristallisationspunkt für Protest, der sich gegen eine Produktion wendet, die das hydrogeologische Gleichgewicht der Region destabilisiert, die CO2-Emissionen nachhaltig stärkt, dystopisch anmutende Landstriche und verlassene Dörfer hinterlässt.
Wenn dann der Konzern RWE zur Sicherung seiner fortwährenden Wertschöpfung das Hochwasser im Tagebau als erstes abpumpt, es in die Erft leitet und so den Pegel in nahe gelegenen Dörfern zusätzlich hochtreibt, ist der »Wahlruf« des Kapitals nach Karl Marx »Après moi le déluge!« (Nach mir die Sintflut!) dieser Tage wortwörtlich zu nehmen.
Der zweite Aspekt liegt darin begründet, dass sich die selbst erzeugte Katastrophe in die Form physischer Gesetze gießt und damit der Gesellschaft als ihr (vermeintliches) Gegenüber entgegentritt. Wenn in Bangladesch etwa Fabriken einstürzen, weil ihre Besitzer*innen zur Maximierung der Profitraten auch noch am Stahlbeton sparen, liegt der kausale Zusammenhang zur kapitalistischen Produktionsweise in dieser Welt auf der Hand.
Im Unterschied dazu erscheint die aktuelle Hochwasserkatastrophe, die zwar ebenfalls direkt durch eine auf den Klimawandel einwirkende Produktion bedingt ist, in ihrer Vermittlung als eine von außen kommende Krise.
Mit der aktuellen Hochwasserkatastrophe wird die bürgerlich-liberale Gesellschaft mit ihrem Grundversprechen konfrontiert, zwar nicht Herrschaft als solche überwunden zu haben, aber dennoch die Übermacht einer als feindlich erfahrenen Natur zurückgedrängt zu haben.
Ähnlich wie im Fall der Corona-Pandemie straft nun der Zusammenhang von Extremwetter und Klimakollaps dieses Grundversprechen Lügen: Es wird offengelegt, dass die kapitalistische Gesellschaft hinter ihr eigenes Glücksversprechen zwangsläufig zurückfallen muss.
Naturkatastrophen töten - sich gegen das Sterben, das Näherkommen des Todes zu wehren und sich dem dadurch erzeugten Zwang zu entziehen, ist aber Kern von Emanzipation und Zivilisation, ihre erste und permanente Aufgabe. Das Grundversprechen der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, Leib und Leben aller ihrer Insass*innen vor äußerer Bedrohung Schutz zu gewähren: Sie will garantieren, dass sie unter keinem anderen Zwang stehen als jenem der stummen kapitalistischen Verhältnisse. Bürgerliche Gesellschaft soll genau jene Vermittlungen anbieten, die einen Teil der unmittelbaren Bedrohung durch den Tod zurückweist - während sie die Option, Menschen ganz simpel dem Tod (ob nun durch Verhungern, Krankheit oder Ertrinken) zu überlassen, als die grundlegende Erpressung beibehält, über die sich gesellschaftliche Herrschaft fortsetzt.
Mit einer solchen Krise konfrontiert, zeigt diese Gesellschaft die Prioritäten, die sie leiten und die sie - gemäß ihrer Eigenlogik - auch respektieren muss. Es wird deutlich, was gerettet werden muss und was zur Disposition gestellt wird, während Tod und Leid zur Fatalität erklärt werden. Schon immer hat der Kapitalismus auch die Rechnung beinhaltet, dass so viele Menschen sterben, bis die Leute beginnen zu rebellieren. Minus eins.
Die Mischung von Korruption, Inkompetenz, Zynismus und offener Parteinahme für einzelne Kapitalfraktionen durch den Kanzlerkandidaten Armin Laschet stellt freilich einen klassischen Gegenstand unter dem Niveau aller Kritik dar, den man getrost mit der Dampframme und wüsten Beleidigungen behandeln darf. Jede differenziertere Kritik wäre bei solchem Gegenstand verschwendet: Es sind Perlen vor die allergrößte Sau.
Und doch personifiziert er auch die Hilflosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft im Umgang mit den durch sie ausgelösten Krisen. Wenn Laschet verlautbart: »Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik«, liest sich das in diesem Zusammenhang wie eine Kurzeinführung in den Begriff der Ideologie. Aus Naturgesetzen wird ein Zufall, aus potenziell Veränderbarem ein Naturgesetz und Fatalität. Die Aussagen stellen dabei ein Appeasement mit dem Tod und darin ein Scheitern von Zivilisation dar. Dabei ist zu beachten, dass die einzige angemessene Kritik sich nicht am »Unwillen« und »dem Versagen« »der Politik« festmachen kann, sondern sich gegen diese Vergesellschaftung selbst und das, was einzig ihre Politik sein kann, richten muss.
Die aktuellen Krisen wie die des Hochwassers werden sich nicht aufhalten lassen, solange es nicht um gesellschaftliche Veränderungen geht, die ein völlig anderes Ganzes zum Ziel haben. Das klingt schwer nach Utopie, ist aber die einzig realistische Antwort auf die Klimakrise. Irrational und verträumt sind hingegen jene, die ein »Weiter so« propagieren.
Judith Beifuß ist Sprecherin der Gruppe »eklat« in Münster.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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