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Queere Solidarität
Nicht nur in der Pandemie brauchte es unter queeren Menschen Soldarität, meint Jeja Klein
Am vergangenen Wochenende fanden in Berlin sowohl der große CSD als auch der Dyke March statt, der das von Schwulen dominierte Main Event um einen Schwerpunkt auf lesbische Sichtbarkeit ergänzt. Um die teils mangelhafte Einhaltung der Coronaregeln ist es in den folgenden Tagen zu einer Debatte gekommen. Doch auch nach dem Dyke March wurde auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg eine kleinere Coronaparty gefeiert. Der Wegfall queerer Ausgeh-, Kennenlern- und Schutzorte hat die LGBTI-Community in den vergangenen Monaten härter getroffen als andere. Umso mehr irritiert mich die mangelnde Coronasolidarität in meinen Kreisen.
Gesundheitsminister Spahn hatte am Montag gesagt, die Bilder vom CSD, »wo Menschen ohne Maske innig auf der Straße tanzen«, passten nicht zur aktuellen Pandemie-Lage. Nun gehört dieser Politiker nicht zum Kreis derjenigen, von denen man sich in Bezug auf Moral in der Pandemie eine Standpauke anhören müsste. Die Zehntausenden, die am Wochenende in der Hauptstadt unterwegs waren, hätten, gar nicht so viel miteinander rumlecken können, um mit Spahn als personifiziertem Superspreader mitzuhalten. Dennoch sollte sich die queere Gemeinschaft die Frage stellen, ob das Verhalten am Wochenende so hätte sein müssen.
In Berlin hat sich die gleitende Sieben-Tage-Fallzahl verfünffacht. Die Kohorte des feierfreudigen Alters ist Treiber der vierten Welle. Mit Stand 30. Juli liegt die Inzidenz bei den 20- bis 24-jährigen bei 87, und mit 27,6 liegt Berlin deutlich über dem bundesdeutschen Trend. Israel erlebt gegenwärtig ähnliche Fallzahlen wie die Bundesrepublik. Das Land mit der weltweit als vorbildlich gepriesenen Impfkampagne ist allerdings, gemessen an der Einwohner*innenzahl, neunmal kleiner. Die bisherigen Impfungen halten die Deltamutante des Virus prinzipiell weder davon ab, unter der ungeimpften Bevölkerung zu zirkulieren noch unter der geimpften.
Nun ließe sich einwenden, dass geimpfte Menschen im Großen und Ganzen jedoch trotz Infektion keine oder kaum Symptome entwickelten. Doch dieses Argument kommt als Bumerang zurück: Gerade die Symptomlosigkeit bei einem relevanten Teil der Infizierten macht die Erfolgsstrategie des Coronavirus aus. Sie sorgt dafür, dass sich Menschen gesund fühlen, mithin unverwundbar, rausgehen und andere Menschen treffen. Ein falsches Sicherheitsempfinden kommt hinzu. Man verzichtet auf das Testen. Die Welle rollt - unter unserem Inzidenzenradar.
Es sind dann die »Schwachen«, die Vorerkrankten, die Armen, jene, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können, die darunter leiden. Wir sind eine Community, die vor nicht allzu langer Zeit Hygiene und Infektionsschutz organisieren musste, und zwar am Boykott sowohl der Mehrheitsgesellschaft als auch der Wissenschaft vorbei. Den Schutz marginalisierter, queerer Leben, insbesondere derer von schwulen Männern und transgeschlechtlichen Frauen, mussten wir gegen den Dschungel der Mythenbildung erkämpfen und durchsetzen. Wir mussten allein, aktivistisch, Wissen produzieren und verteilen. Und: Die queere Menschenrechtsbewegung ist keine Bewegung, in der Einzelne für ihr individuelles Recht kämpfen. Sie ist eine Bewegung derer, sowohl untereinander, als auch über all die Grenzen hinweg, die uns trennen. Eine Bewegung, die die Abwertung und Marginalisierung Weniger zugunsten der Bequemlichkeit der Mehrheit nicht hinnehmen will. Wir sollten uns dessen auch in der vierten Welle bewusst bleiben.
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