- Berlin
- Arbeitskampf bei Gorillas
Streik ohne Blaupause
Anwalt stärkt Beschäftigten des Lieferdienstes Gorillas bei Arbeitskampf juristisch den Rücken
»Nach der Europäischen Sozialcharta, der Deutschland im Bereich des Streikrechts vollumfänglich zugestimmt hat, sind verbandsfreie Streiks sehr wohl legal!« Das sagt der Berliner Rechtsanwalt Benedikt Hopmann, eine Arbeitsrechtsspezialist. Anlass für seine Worte sind die aktuellen Arbeitskämpfe beim Lebensmittel-Bringdienst Gorillas. Am Freitagabend war er von dem Verein »Aktion gegen Arbeitsunrecht« eingeladen worden, um in einem juristisch-politischen Vortrag per Livestream seine Expertise darzulegen.
Laut Hopmann nimmt die Europäische Sozialcharta (ESC), die Koalitionsfreiheit der Beschäftigten zum Ausgangspunkt für Streiks und Arbeitskämpfe. Sie beschränke sich keineswegs nur auf Gewerkschaften. »Es geht in der ESC nicht allein um das Recht der Gewerkschaften, Arbeitskämpfe mit dem Ziel durchzuführen, einen Tarifvertrag abzuschließen, sondern auch um das Recht von Zusammenschlüssen von Beschäftigten eines Betriebs, die sich auch ad-hoc und spontan zusammenfinden können, um ihre Forderungen durchzusetzen, die auch nicht im Sinne eines Tarifvertrags sein müssen«, erläutert Hopmann. Dass die Bundesrepublik und das Bundesarbeitsgericht nicht auf dieser Grundlage handeln und lediglich Arbeitsniederlegungen anerkennen, die von Gewerkschaften mit dem Ziel ausgehen, Tarifverträge zu verhandeln, sei seiner Einschätzung nach ein Skandal und »ein andauernder Bruch des Völkerrechts.« Er hoffe, dass der Europäische Gerichtshof in Straßburg in absehbarer Zeit ein Machtwort in Sachen verbandsfreier Streiks spricht.
Wenig Lohn für viel Arbeit, Repression gegen Beschäftigte, die einen Betriebsrat gründen wollen, prekäre Arbeitsbedingungen: Bei dem jungen Berliner Bringdienst-Start-up Gorillas gibt es so Einiges, was die Mitarbeiter*innen seit Längerem auf die Palme bringt. Anfang Juni entlud sich der angestaute Zorn der Beschäftigten über die Bedingungen bei dem in der Corona-Pandemie 2020 gegründeten Dienstleister in einer Streikaktion vor zwei Gorillas-Lebensmittellagern in der Charlottenstraße und in der Torstraße. Wütende Fahrer*innen, die betriebsintern »Rider« genannt werden, und die sogenannten »Picker«, die die Einkaufstüten mit den bestellten Artikeln befüllen, hatten sich versammelt, um gegen den überraschenden Rauswurf eines Fahrers namens Santiago zu protestieren - und legten für einige Zeit ihre Arbeit nieder. Sie forderten die Wiedereinstellung des gefeuerten Kollegen sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
Ein paar Tage später ging der Arbeitskampf der Gorillas-Beschäftigten weiter und ein weiterer Lagerstandort wurde für mehrere Stunden blockiert. Zu den Aktionen aufgerufen hatte jeweils das »Gorillas Workers-Collective« (GWC), zu deutsch: Gorillas Arbeiter*innenkollektiv, ein basisdemokratischer Zusammenschluss von engagierten Beschäftigten des Lieferdienstes. Ende Juni formulierte das GWC dann einen Forderungskatalog an das Unternehmensmanagement. Darauf eingegangen ist man von Unternehmensseite bis dato nicht.
Doch das GWC ist keine eingetragene Gewerkschaft, die nach gängigem bundesdeutschem Arbeitsrecht zum Ausstand aufrufen und als Tarifpartner Forderungen verhandeln könnte. Die Aktionen der Gorillas-Fahrer:innen sind laut deutschem Arbeitsrecht »wilde«, verbandsfreie Streiks - und die sind verboten.
Der lang andauernde und öffentlichkeitswirksame Protest hat die Politik aufgeschreckt. Kürzlich traf sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) mit Gorillas-Beschäftigten. »Ich kann mich als Arbeitsminister nicht unmittelbar in Arbeitskämpfe einschalten, aber ich kann mich informieren«, sagte er. Heil sprach sich erneut für das Ende von sachgrundlosen Befristungen aus. Er rief die Beschäftigten dazu auf, sich im Arbeitskampf mit den etablierten Gewerkschaften zusammenzutun. Die »Berliner Morgenpost« berichtet, dass die Berliner Senatsverwaltung für Arbeit wegen Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz nun ein Bußgeldverfahren gegen das Start-up eingeleitet habe.
Die Arbeitgeberseite gibt sich problembewusst. »Uns liegen die Interessen unserer Rider am Herzen, und wir nehmen ihr Feedback äußerst ernst«, teilte das Unternehmen vor wenigen Tagen anlässlich einer Protestaktion mit. »Wir unterstützen ausdrücklich und uneingeschränkt die Gründung eines Betriebsrats bei Gorillas und werden dafür selbstverständlich alle benötigten Mittel zur Verfügung stellen.«
Beim Gorillas Workers Collective berichtet man anderes. So sollen alle Beschäftigten, die mehr als 20 Stunden pro Woche arbeiten, vom Auslieferungslager an der Schönhauser Allee auf andere Standorte verteilt werden. Just zu jenem Zeitpunkt, als sie laut GWC sich organisiert hätten und bereit gewesen sein sollen, kollektive Forderungen zu stellen. Kritisiert wird aktuell auch, dass die Rider in Spitzenzeiten bis zu vier Bestellungen gleichzeitig ausliefern sollen, womit konkret die eigentlich vorgesehene Gewichtsgrenze von zehn Kilo bei der Ladung überschritten werde.
Anwalt Benedikt Hopmann ist kein Unbekannter. Er vertrat unter anderem die als »Emmely« bekannt gewordene Berliner Kassiererin, die wegen der möglichen Unterschlagung von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro durch eine Verdachtskündigung ihren Arbeitsplatz verlor. 2010 obsiegte er schließlich vor dem Bundesarbeitsgericht.
»Dass ihr eure Rechte wahrnehmt, ist eine starke Sache, da ihr kein Streikgeld bekommt«, sagt Hopmann in Richtung der Gorillas-Rider. Für zukünftige Streikaktionen empfiehlt der Experte den Beschäftigten zwei Dinge. Erstens: eine Vermittlerperson zu benennen, die auf den Chef zugeht. Zweitens: mindestens eine Forderung zu erheben, die nicht auf eine Änderung des Vertragsverhältnisses abzielt. Das könnte etwa die Forderung nach einem Diensttelefon sein, so Hopmann. Für »wilde«, verbandsfreie Streik, gebe es keine Blaupause und keinen rechtlichen Ablaufplan. »Aber es lohnt sich, weiterzukämpfen.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.