Im Klammergriff des Kapitals

Bitte beschreiben, wie glücklich man ist: Die mediale Begleitmusik zu den Spielen in Tokio

  • Jürgen Roth
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist eine Blamage. Um es leicht abgewandelt mit Thomas Bernhard zu sagen: Ein unglaublicher Schwachsinn kurbelt an unserer Sportfernsehmaschinerie. Eingeräumt sei, dass das eine Promille jener Journalisten, die so arbeiten, wie es für jeden Kollegen selbstverständlich zu sein hätte, nämlich investigativ, in Tokio nicht nur unter skandalös engen Hotelzimmern leidet, wie der sogenannte Nachrichtensender n-tv zu Beginn der Olympischen Spiele vermeldete. Sondern auch gemäß der Marschrichtlinie, die der galaktische IOC-Präsident Thomas Bach während der Eröffnungsfeier ausgegeben hatte – man werde »die bestinszenierten Spiele aller Zeiten« erleben –, traktiert wird.

Hajo Seppelt, Leiter der ARD-Redaktion, die sich um Doping und Sportpolitik kümmert, spricht von struktureller Zensur und massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Wenn man ein Ausgehverbot für etwas genauer hinschauende Berichterstatter verhängt, lässt sich das bestinszenierte Event aller Zeiten eben recht locker und »unbeachtet und unberührt von kritischen Reportern« (n-tv) abwickeln.

Eingeräumt sei zudem, dass es einen Bekloppten wie mich, der mehr oder weniger rund um die Uhr vor der Glotze statt bei den Vögeln im idyllischen Landgarten sitzt, ab und an durchaus hinreißt – etwa wenn in der Männervolleyballpartie Polen gegen den Iran auf das Spielgerät derart eingedroschen wird, dass man dagegen Heavy Metal für volkstümliche Musik hält. Und wenn die Deutschen im Handball Sekunde für Sekunde die Nerven auszuzeln.

Wenn man einem der besten Tischtennismatches aller Zeiten beiwohnt, zwischen Dimitrij Ovtcharov und Ma Long. Oder wenn Alexander Zverev den unbezwingbaren »Tennis-Dominator« (ARD-Videotext) Novak Đoković zerlegt. Da ist der geschundene Sport im Klammergriff des Kapitals auf einmal groß und zumal viel größer als sein medialer Transport, und obendrein fällt einem plötzlich auf, dass ausnahmslos jede Sportart interessanter zu sein vermag als der öde Fußball, bei dem ununterbrochen betrogen und geschauspielert wird, während überall sonst weitgehend die Fairness obwaltet. Rätselhaft, warum dieses Spiel die beliebteste Leibesbetätigung der Welt ist.

Aber, aber: Weshalb stöhnen, raunen, jaulen, grölen und schreien denn diese Kommentatoren, die ja bloß das offenkundige Geschehen begleiten und interpretieren müssen, bei jeder Gelegenheit? Wieso dramatisieren sie die allernormalsten Vorgänge? Was ist in das sprechende Überdruckventil Eik Galley (Boxen) gefahren? Was muss Guido De Santis (Judo) sich oder uns beweisen? Was soll das schleimerische Gequatsche von »mehr Commitment geht kaum«, von »radikalen Moves« (Jan Wiecken, Surfen), vom »Point guard«, von einem »streaky« Spieler, der »heißläuft«, so dass er »unstoppable« ist (Holger Sauer, Basketball)?

Sogar im Basketball gibt es jetzt »Anspielstationen« statt freier Spieler. Ein Schlag heißt nun Shot (»Sie geht nicht direkt auf den Shot«, Julius Brink, Beachvolleyball); ein Ball wird nicht mehr angenommen, sondern »kontaktet« (Philipp Crone, Hockey), ein Spielzug nicht mehr abgeschlossen, sondern »gefinisht« (Christian Blunck, Hockey). Selbst der altgediente, ziemlich rühmliche Peter Leissl ist beim Straßenradrennen im Sinne irgendeines Fun-Faktors und der Doktrin allzeitiger Aufgeregtheit und Hipness von der Rolle (»Da kommen die Italiener aus ihren Löchern«), und der im Grunde famose Tennisspezialist Aris Donzelli übt sich dito im Blechschmieden: »Auch das Spiel der Mentalarbeit hat mittlerweile begonnen.« Beziehungsweise: »Er muss ihn mit Power, mit viel Druck eindecken.«

Von Peter Leissl lernten wir des Weiteren: »Es werden einige ohne Medaille bleiben.« Na, da schau her. Das vernahmen wir ähnlich von Tibor Meingast beim Luftpistolenschießen: »Sieben Athleten noch im Wettbewerb, drei davon werden eine Medaille gewinnen.« Donnerlüttchen.

Ausnehmend doll ward es beim Kanuslalom getrieben. Susanne Simon (ZDF) erregte das »Popogefühl« eines Akteurs und war darüber hinaus rednerisch stets scharfgestellt: »Sie sehen hier wunderbar, wie fokussiert er ist«, »Es kommt einfach drauf an, auf den Moment«, »Er war bei vier olympischen Medaillen im Finale« – und: »Olympische Gesetze, die gibt es sowieso.« Was das für Gesetze sind – niemand weiß es, und was Ann-Kathrin Rose von der ARD geritten oder genommen hat, bleibt ebenso im Dunklen. Um die richtige Linie im Kanal zu fahren, müsse man, erläuterte sie, »den kompletten Fokus finden«, was die Favoritin Jessica Fox allerdings nicht hinbekam, »die Jüdin aus Australien«.

Wohltuend oft antworteten hingegen die Schwimmer während der per Eilentscheid abzuschaffenden Beckenrandinterviews mit »Keine Ahnung«; die Judoka Anna-Maria Wagner brach eine dieser lästigen und lachhaften Ausfragereien ab. Warum sollen sich erschöpfte Sportler ein, zwei Minuten nach ihrem Wettkampf zum Affen machen und der TV-Meute irgendeinen Schlonz vor die Mäuler werfen? »Beschreiben Sie mal, wie glücklich Sie sind« – so Anja Fröhlich exemplarisch gegenüber dem Turner Lukas Dauser.

In eine x-beliebige ARD-Verwaltungsstelle versetzt werden möge mein Lieblingsrühreiredner Alexander »Form-Boost« Bommes, der sich im Studio stundenlang in seiner seifigen Lässigkeit suhlt und dabei »naturgemäß« (Th. Bernhard) narzisstisch in den Hüften wiegt, um Statements und Fragen zu emittieren, die den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen: »Sie sind durchaus im Bereich für Großes.« – »Da kann man ins hohe Regal greifen.« – »Platzt hier eine Freundschaft oder ein Boot?« – »Was muss bei Ihnen geschwirrt sein?« Übersetzung: Was ging da in Ihnen vor? Man will es nicht in Erfahrung bringen – erst recht nicht, ginge es um den in seiner intellektuellen Leere rotierenden Plapper-Poser.

Die Blamage »perfekt« macht schließlich die fleischgewordene Plastikcoolness Jessy Wellmer. Ihre herzhaft hohlen Lachinterviews (»Einfach irre«, »Das ist dann wahrscheinlich schräg«) rund um »das runde Ding da um den Hals« und sonstige »tolle Medaillen« sind bereits heute legendär. In irgendwelchen medienwissenschaftlichen Seminaren dürfte man zum Beispiel mal die »Fragen« analysieren, die sie dem Judo-Mixed-Team am Samstag an die Köpfe warf: »Ist Judo eigentlich auch so ’ne vertickte Sportart?« – »Judo ist echt so ’n Maschinensport, ne?« – »Sind da bei der Siegerehrung auch ein paar Tränen geflossen, oder war das so unvermittelt, dass man eh nichts schnallt?«

Wer schnallt, was sie zu sagen versuchte, bekommt einen Kasten Bier von mir. Und wie mag man deuten, dass Jessy Wellmer perennierend – und gewürzt mit einem festgezurrten Die-Welt-ist-Bombe-Grienen – so gut wie jede Silbe bis zum Horizont über der Tokyo Bay dehnt? Als eine Extraart von Wühltischlaszivität? Als Ausdruck von Gelangweiltheit? Oder, umgekehrt, als Beleg dafür, sie sei eine »Reinfühlexpertin« (Wellmer)?

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