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Unterwegs im Grenzgebiet
Urwüchsiges Karelien: Bären und Vielfraße, ein orthodoxer Priester, der einen guten Draht nach oben hat und ein Pirat, der Gin und Whisky herstellt - auf einer Tour durch Ostfinnland wartet hinter jeder Kurve eine neue Überraschung
Pater Janne war früher Soldat an der finnisch-russischen Grenze. Heute ist der 58-Jährige Priester der orthodoxen Kirche in Ilomantsi. Beide Berufe seien gar nicht so unterschiedlich, sagt er, hier wie dort müsse man »einem oben gehorchen und einen Feind bekämpfen«. Er lacht und sagst: »Früher waren das die Russen, heute ist es der Teufel.« Ilomantsi liegt in Nordkarelien, ist die östlichste Gemeinde des Landes und das Zentrum des orthodoxen Glaubens. Knapp 18 Prozent der 5000 Bewohner gehören dieser Glaubensrichtung an und damit zu Jannes Gemeinde. Die 1891 erbaute, dem Heiligen Elias geweihte Kirche, in der er seine Gottesdienste abhält, hält einen kleinen finnischen Rekord - sie ist die größte orthodoxe Holzkirche im Land.
Das bekannteste Zentrum orthodoxen Glaubens liegt aber nicht in Ilomantsi, sondern im Kloster Uusi Valamo. Das befindet sich 130 Kilometer entfernt, und doch gibt es durchaus eine Verbindung hierher - und die führt zum Weingut Hermannin Viinitila. Dort produziert Asko Ryynänen den Beerenwein für das Kloster. Doch Ryynänen stellt nicht nur die Weine für die Mönche her, sondern auch Gin und Whisky. Auch an Absinthproduktion versucht sich der 40-Jährige, der mit seinem kunstvoll eingedrehten Bart ein bisschen aussieht wie ein Pirat. Die ersten Testchargen stehen jedenfalls schon auf dem Tisch des Hauses. Wegen Finnlands strenger Alkoholpolitik, die den Verkauf von Hochprozentigem nur durch den staatlichen Monopolkonzern Alko zulässt, kann man Ryynänens Kreationen nicht vor Ort kaufen. Abhilfe schafft da der Weinturm, »Viinitorni«, nur ein paar Hundert Meter entfernt. Ganz oben in einem alten Wasserturm liegt ein Panoramarestaurant, das nicht nur Weitblick bis jenseits der russischen Grenze bietet, sondern auch einheimische Alkoholspezialitäten.
Kantele in Ilomantsi
Doch auch wenn der »Arctic Blue Gin« noch so gut schmeckt, ein bisschen Zurückhaltung sollte man sich auferlegen, denn Ilomantsi hat noch mehr zu bieten. Die bedeutendste Sehenswürdigkeit ist das Runendorf Parppeinvaara, ein Freilichtmuseum, in dem den Besuchern karelische Kultur vermittelt wird. Um Irrtümern vorzubeugen sei erwähnt, dass mit »Runen« hier nicht die alten germanischen Schriftzeichen gemeint sind, sondern die Verse des finnischen Nationalepos Kalevala.
Karelien gilt als die finnischste aller Landschaften und inspirierte von jeher Dichter und Komponisten. Der Schriftsteller und Sprachforscher Elias Lönnrot bereiste die Region Mitte des 19. Jahrhunderts, sammelte Volkssagen und Lieder und fügte daraus das Nationalepos zusammen. Lieder aus Karelien und der Kalevala bekommen die Gäste in der Runensängerhütte zu hören - begleitet auf der Kantele, der finnischen Entsprechung zur Zither. In Ilomantsi hat man eine ganz besondere Beziehung zu diesem Instrument, im Ortswappen sind gleich drei fünfsaitige Kantelen abgebildet. Auf dem Gelände des Freilichtmuseums liegt auch die »Hütte des Grenzgenerals«. Dass in ihr Generalmajor Erkki Raappana während des Zweiten Weltkriegs sein Hauptquartier hatte, dürfte nur die wenigsten nicht-finnischen Besucher interessieren. Da man in der Region aber der Kriegsgeschichte auf Schritt und Tritt begegnet, sollte man zumindest wissen, dass Ilomantsi der einzige Ort in Finnland war, in dem sowohl im Winterkrieg 1939/40 und im Fortsetzungskrieg 1941-44 Schlachten geschlagen wurden. Wer mag, kann in der Region noch an vielen Stellen Schützengräben und Unterstände aus der Kriegszeit besichtigen.
Bären aus Holz
Überall in Ilomantsi stehen Bärenstatuen herum. Die sind das Ergebnis des jedes Jahr im August stattfindenden Bärenfestivals, bei dem die Teilnehmer die Aufgabe haben, einen Holzpflock mit der Kettensäge so zu bearbeiten, dass zum Schluss eine Bärenfigur übrig bleibt. Am Ende des Wettbewerbs fahren die Teilnehmer wieder nach Hause, die hölzernen Bären aber bleiben in Ilomantsi. Das Ziel ist es, dass irgendwann einmal tausend Bärenskulpturen in den Straßen der Stadt stehen. Dabei leben in der Region auch viele wilde Braunbären. Die aber sind scheue Gesellen und gehen Wanderern aus dem Weg.
Wer sicher Tiere in freier Wildbahn fotografieren will, meldet sich am besten bei Erä-Eero, der mit bürgerlichem Namen Eero Kortelainen heißt, zur Wildtierbeobachtung an. Der Weg zu ihm führt über lange Schotterpisten und endet irgendwo im Nichts, mitten im finnischen Wald. Dort steht sein Haus, das ich - nach der strengen Ermahnung, die Schuhe auszuziehen - betreten darf. Drinnen warten schon zwei finnische Paare, die ebenfalls auf Pirsch gehen wollen. Wobei das Wort Pirsch etwas irreführend sein könnte, denn im Wesentlichen werden wir die nächsten 16 Stunden still sitzend in einer kleinen Hütte verbringen. Bei Kaffee und Zimtschnecke erklärt Eero die Grundregeln der Tierbeobachtung. Die lassen sich schnell zusammenfassen: Man soll leise sein, sich so wenig wie möglich bewegen und keinesfalls vor die Hütte gehen. Weil Eero aber ein leidenschaftlicher Erzähler ist und immer wieder eine neue Anekdote ausgräbt, die von Bären, Vielfraßen und Wölfen handelt, dauert die Vorbereitung aufs »Abenteuer Wildnis« fast zwei Stunden. Zum Schluss stattet Eero uns noch mit ein paar Broten und einer Kanne Kaffee aus. Dann endlich geht es los und weiter hinein in den Wald. Wir folgen Eero im Gänsemarsch, doch überraschenderweise sind es zu den Beobachtungshütten nur ein paar Schritte. Vielfraß und Bär werden also quasi in Eeros Hinterhof erwartet. Was den Wolf angeht, hat der Fachmann für Wildtiere unsere Erwartungen schon gedämpft. Um den zu sehen, müsse man wirklich extrem viel Glück haben.
Vielfraß, Möwe und Specht
Während Eero draußen die Köder auslegt, verteilen wir uns auf die Beobachtungshütten. Drinnen verstaue ich Essensvorräte und Schlafsack und bringe umgehend meine Kamera in Stellung. Das hatte Eero so empfohlen. Die Tiere hielten sich an keinen Zeitplan, hatte er gemahnt und es könne durchaus sein, dass sich die spektakulärsten Szenen gleich zu Beginn abspielten. So als hätte er sich mit Eero abgesprochen, taucht schon nach wenigen Minuten der erste Vielfraß auf. Bald gesellt sich ein zweiter dazu. Weil Vielfraße eigentlich Einzelgänger sind, kommt es zu einer kleinen Rangelei, bist beide feststellen, dass genügend Futter für alle da ist.
Nach dem beeindruckenden Auftakt geht es auf der Freilichtbühne vor der Hütte erst einmal etwas ruhiger zu. Ein Nebendarsteller führt jetzt die Handlung weiter. Ein Buntspecht sucht an dem Baum vor meinem Unterschlupf nach Futter. Bald darauf erscheinen Möwen. Was die mitten im finnischen Wald zu suchen haben, bleibt mir ein Rätsel. Auf jeden Fall geben sie den Pausenfüller, bis nach einigen Stunden wieder die Vielfraße übernehmen. Danach folgt erneut eine Vogelshow. Eine paar Raben und ein Mäusebussard beobachten das Geschehen von oben und geben die Vorgruppe für den Hauptdarsteller: mitten in der Nacht betritt ein Braunbär die Bühne. Im Dämmerlicht kaum zu erkennen, schnappt er sich einen Bissen, macht kehrt und verschwindet zwischen den Bäumen. Richtige Stars machen sich eben rar. Ein paar Vielfraße sind später vor der Hütte zum Frühstück verabredet. Dann heißt es Abschied nehmen - Frühstück gibt es jetzt auch für uns, nur ein paar Schritte vom Tiertheater entfernt, in Eeros guter Stube.
Allgemeine Informationen: www.visitkarelia.fi/de/Nordkarelien Erä-Eero, Tierbeobachtung und Tierfotografie: www.eraeero.com
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